kreuzberger dichtungswerk

Sabine Wilde, Aufgewacht

Sie war 25 Jahre alt, groß gewachsen, hatte einen schwarzen Bubikopf und trug schwarze Jeanshosen mit bauchnabelfreiem, ebenfalls schwarzem Top. Ihre Erscheinung beeindruckte die Männerwelt, denn auch ihre Figur war 1A. Irene Jacobi hieß sie und studierte an der Humboldt-Uni Psychologie. Meistens war sie ein ausgeglichener Mensch, nur körperliche Schmerzen und rassistische Sprüche konnten Wut in ihr erzeugen, manchmal auch zu langsame Auffassungsgabe und Angeberei. Doch eigentlich war sie ein eher unkomplizierter Mensch. Sie lebte gern, ihre Eltern hatten einen kleinen Internethandel.

Irene ging an diesem Nachmittag Lebensmittel kaufen, für sich und Frieda, ihre Katze. Sie mochte diesen Discounter nicht besonders, lieber waren ihr Internetkäufe, doch ihr Kühlschrank war leer, und sie hatte Hunger. Es war kühl in dem Laden, sie sammelte ihre Waren in einem Korb und legte diese an der Kasse auf das Förderband. Der darunter laufende automatische Scanner nahm alles auf und zeigte 23 Euro an, Irene hielt ihr Handgelenk hin, es klickte und sie hatte bezahlt. Schnell und einfach. Es war nebelig an diesem Montag und sie wollte so schnell wie möglich in ihre Tinywohnung in Berlin-Kreuzberg. Die vielen lautlosen Drohnen, die Pakete durch offene Balkontüren lieferten, störten sie. Sie kamen ihr stets vor wie eine Invasion von überdimensionalen Heuschrecken. Aber es war so praktisch, über Internet Waren zu bestellen und sie in spätestens 2 Stunden via Drohne geliefert zu bekommen. Ihre Eltern praktizierten dieses Geschäft seit über 3 Jahren und waren erfolgreich.

Sie lief in ihren bequemen Snikers die 6 liftlosen Etagen zu ihrer Altbauwohnung hoch. Aus 2 Zweizimmerwohnungen ward vor ihrem Einzug vier Einraumwohnungen gebaut worden, man musste Platz sparen, Wohnraum war teuer. Sie füllte ihren Kühlschrank auf und klappte den schmalen Wandtisch aus, ihre Wände waren voller bunter Regale, auf denen sich Bücher stapelten, ein Bett und leichte Klappstühle säumten den Tisch. Auf den Fensterbrettern standen drei blühende Primeln. Obwohl ihr Appartement nur 15 qm groß war und sie nur einen Kühlschrank und zwei Kochplatten besaß, wohnte sie gerne dort, der minimalistische Lebensstil war für sie und viele ihrer Kommilitonen zu einem Paradigma geworden, an welches sie sich gewöhnt und es liebgewonnen hatte. Sie bereitete sich einen Salat aus Algen, Sprossen und Thunfisch, ihr Magen knurrte so laut, dass sie sich beeilte, ihr Essen fertig zu stellen. Sie dachte an Magdalene, ihre Schwester, ob das Baby bald kommen würde? Sie war im neunten Monat schwanger und die ganze Familie freute sich mit ihr. Natürlich war man auf Nummer sicher gegangen, sie hatten einen Gencheck machen lassen und eine leichte Manipulation vornehmen lassen, diese bestimmte, dass das Kind keine Erbkrankheiten, keine Fettsuchtneigung, lockige, dunkle Haare und einen IQ von 120 bekommen würde. Dieser Fortschritt war für die, die Geld hatten, eine freudig erwartete Offenbarung, sie konnten sich endlich ihr Wunschkind kreieren.  Allen Säuglingen wurden gleich nach ihrer Geburt ein Chip in das Handgelenk verpflanzt, indem seine persönlichen und genetischen Daten gespeichert wurden, Ausweise jeglicher Art und Bargeld brauchte man auf diese Art nicht mehr. Irene sah auf ihre Bildwand und dachte an die heutige Nachrichtensendung, sofort erschien das Bild des Sprechers. Sie saß wie erstarrt da. In Frankreich kam es zu gehäuften Fehlgeburten und Missbildungen, die im Ultraschall erst ab dem 4. Monat erkennbar wurden. Trotz Technik diese Katastrophe, Irene bekam eine Gänsehaut, war Deutschland davor geschützt? Der Ansager berichtete von einem noch nicht genau bekannten Umweltgift, das Blumen und Insekten schützen, aber Ungeziefer vertilgen und die Ertragsspanne für die Bauern effektiver machen sollte. Einige Abgeordnete setzten sich für diese herstellende Firma ein. Irene sperrte ein Fenster auf, um besser atmen zu können, immer mehr häuften sich die Skandale um Pestizide und Giftmüll.

Neulich fand man radioaktiv verseuchte Fässer im Mittelmeer. Die Strafen dafür waren horrend, doch die Schäden viel schlimmer. Die schöne, neue Welt hatte Risse, weil sich solche Meldungen häuften. Zwar betrafen solche Unfälle stets nur andere Länder, was wiederum beruhigend war, aber Irene hatte dabei stets ein flaues Gefühl. Ihr rechtes Ohrläppchen vibrierte, der Phonechip meldete sich. Ihre Schwester rief an. Sie sei im Kreißsaal mit Mann und Mutter, alles sei in Ordnung. Irene atmete auf. Gespannt war sie auf den neuen Erdenbürger, ihr erster Neffe kam zur Welt. Sie wollte ihn verwöhnen und hätscheln, doch natürlich alles in Grenzen, er sollte ein guter Bürger der Republik werden, eine der drei bestehenden Parteien wählen, angepasst, kreativ, innovativ, aber auch ein wenig verschlafen sein, allerdings nicht so, dass der bestehende Staat, der es nur gut mit dem Volk meinte, in Gefahr war, in Lethargie zu verfallen. Kriege fanden seit 100 Jahren in der Republik nicht mehr statt und die Stellvertreterunruhen waren weit weg. Leider trafen sie überwiegend die armen Menschen.

Sie sagte sanft “Kaffee Crema“ in den Raum, und ihr Kaffeeautomat begann Wasser in einen Glasbehälter zu füllen, es gurgelte leise vor sich hin. Am liebsten wäre sie gleich in das 3. städtische Krankenhaus gefahren, doch sie hatte nicht das Gefühl, dort erwünscht zu sein. Sie schaute gelangweilt aus dem Fenster. Direkt davor befand sich ein kleiner Park mit Bänken, Fitnessgeräten, Platanen und Lindenbäumen, ein gemütlicher Platz, um einen Kaffee to go zu trinken oder sich in seinen Cyberview zu versenken. Dieser war wie eine dicke Brille, mit der man in seine Fantasiewelt reisen konnte. Überall im Park saßen Menschen, bebrillt mit stabilen Rändern, schnauften, sprachen und lachten einfach vor sich hin. Menschen, die lasen oder mit einander sprachen, sah man nicht. Wieder vibrierte ihr Ohrläppchen. „Pete“. Sie nahm  eine verhaltene Stimme wahr. Er war ein Freund aus Kindertagen, was hatte er ihr wohl zu sagen? Vor ein paar Tagen wurde ihm ein konversialer Chip implantiert, der mit Hilfe eines Minicomputers seine Intelligenz um 40% steigern sollte. Die Gefahr einer Gedankenübernahme durch die Regierung war bekannt.

Pete berichtete, es ginge ihm nicht gut. Seit der Operation könne er zwar Zahlen und Fakten besser behalten, doch alles sei irgendwie symbolhaft und seine Gedanken seien so aufdringlich wie Fruchtfliegen in verfaultem Obst, er könne sie nicht mehr abschalten, sei unruhig und aufgekratzt. Irene wusste nicht, was sie ihm sagen sollte. Schon immer war sie gegen diesen Eingriff gewesen, denn die Gefahr, bei nicht regierungskonformen Gedanken überrascht zu werden, war hoch. Er war auch Student und man konnte ihn von der Uni verweisen, die Studentenbezüge streichen oder ihn sogar festnehmen oder aber: verschwinden lassen. Sie verstand seine Aktion nicht. Er jedoch fühlte sich durch das Studium ausgelaugt und überfordert, hatte Bedenken, im nächsten Semester die Prüfungen nicht zu bestehen. Wer nach fünf Jahren an der Uni noch keinen geeigneten Job fand, der wurde zwangsweise in eine Fabrik gesteckt. Arbeit für alle hieß´das Motto und der Staat regulierte streng den Arbeitsmarkt. Ausbildung und Tätigkeiten wurden nicht nach Neigungen vergeben, sondern nach politischer Konformität.

Nach dem Ende des Gespräches trank sie den schon kalt gewordenen Kaffee, befahl der Spülmaschine das Geschirr zu reinigen und nahm ein Statistikbuch aus dem Regal, sie wollte lernen Eine Stunde verging. Es vibrierte nochmals, nochmals Pete. „Sie haben mich in die Psychiatrie gesperrt“, schrie er, dann war der Empfang weg. Ihr stieg Röte ins Gesicht, ihr Herz schlug heftiger, das war nun schon der zweite Fall, von dem sie zaghaft, hinter vorgehaltener Hand gehört hatte. Die Operierten sollten einfach so verschwunden sein. In ihr wütete der Konflikt zwischen Zweifel und Glaube.

Auch sie hatte Chips in ihrem Körper. Einen Identitäts-Zahlungschip, einen Telefonchip und einen Sender, der sie automatisch mit der großen Bildwand verband.

 Ihr Leben war nicht schlecht, nein, das konnte sie nicht sagen, aber abhängig von einer Technik, die sie nicht begriff und die sich jederzeit gegen sie richten konnte. Wer sagte ihr denn, dass ihr Handyvibrator nicht alle Anrufe an die Behörden weitergab? Ja, sie war vorsichtig, aber war es richtig, ein Wesen zu sein, das rundum bewacht und bewertet würde? Zudem fühlte sie eine Stumpfheit in sich, die sich über die Jahre unmerklich steigerte.

Petes Anruf  brachte sie also zum Nachdenken, ja, er wühlte sie geradezu auf. Alles hatte sie immer hingenommen, nichts kritisch hinterfragt. Technik war Fortschritt und Fortschritt war gut. Sie ließ sich auf ihre schon etwas demolierte Ledercouch fallen, schwer und müde. Was sollte diese digitale Verbundenheit? Waren sie wie ein Bienenschwarm, der außer seiner Arbeitsleistung keine Individualität kannte? Zum ersten Male in ihrem Leben hatte sie Skrupel am staatlichen System, in ihrem Magen rumorte es.

Waren Systemrelevanz und Konformität vielleicht doch etwas, was die Persönlichkeit raubte, das Denken dumpf und schwerfällig machte? Wo waren die anderen, die, die sich auflehnten gegen Kontrolle und Entmenschlichung? Irene kam ein Verdacht, den sie  kaum zu denken wagte, doch der ihr in diesem Kontext sehr stimmig vorkam. Man ließ die Menschen verschwinden, die sich nicht gleichschalten lassen wollten. Ihr Hörsaal war seit Beginn des 2. Semesters um ein Viertel der Studierenden geschrumpft. Vielleicht hatten sie nicht freiwillig abgebrochen, sondern sind gezwungen worden. Wahrscheinlich sagte man ihren Angehörigen, sie seien auf das Land zur Feldarbeit kommandiert, und ließ sie dann einfach verschwinden. Es kümmerte die Polizei nicht, wenn ein Dissident einfach weg war, man führte plausible Gründe an und wies damit jeden kritischen Frager ab.

Ihr Vater war ein treues Parteimitglied, das war auch der Grund, weshalb sie sich ihren Studienplatz aussuchen konnte. Zweifel am System schien er nicht zu kennen, ihre Mutter war total unpolitisch, ebenso die Schwester.

Irene war hin- und hergerissen, diese neuen relevanten Gedanken und ihre Sozialisation zum Gehorsam vertrugen sich nicht. Das Ohrläppchen vibrierte wieder, ihre Schwester sprach noch etwas schwach, dass ihr Neffe vor einer halben Stunde geboren wurde. „Irene, er wird ein guter Diener des Staates, wie Papa“, verkündete sie. Irene gratulierte und sagte „Ende“ in den Raum.

War das das Wichtigste für einen Menschen, dem Staat zu dienen, ihn nicht zu hinterfragen und, wenn man das tat, ausgegrenzt und abgeschafft zu werden? Ihre Gedanken zerknäulten sich in ihrem Kopf, nicht mehr mitzumachen, das wäre eine angemessene menschliche Regung.

Doch sie saß schon in der digitalen Falle.

Um 17.30 Uhr ging in der Beobachtungszentrale für Abweichler eine Nachricht über den Transsendercomputer W4569 ein. Suversive Gedanken einer Irene Jacobs wurden gemeldet. Ihr Neurochip, der sie mit ihrer Bildwand per Gedanken verband, war aktiviert, er war ein Überwachungsmedium.

Um 18 Uhr klingelte es an ihrer Tür. Unschuldig öffnete sie. Ein nicht unsympathisch aussehender Mann in blauen Jeans und weißem T-Shirt stand davor. Er wies sich als Schutzwächter aus und verlangte, in ihre Wohnung zu treten. Sie ließ es zu. „Der Staat hat beschlossen, sie in die Schweinezucht nach Saartal zur Läuterung zu verbringen“, sprach er ruhig und sachlich. Irene bekam zittrige Knie, sie wollte um Hilfe brüllen, wusste jedoch das dies nichts nützen würde.

Plötzlich ein durchdringendes, quietschendes Geräusch, der Wächter ruderte mit den Armen und verdrehte den Kopf. Irene dachte zuerst, er hätte einen Anfall, dann sah sie, wie sich seine Gesichtshaut bis zum Hinterkopf wegzog und anstelle eines Gesichtes war ein Computer zu sehen, eine künstliche Intelligenz. Irene konnte nicht schreien, der Schreck nahm ihr die Stimme. Der Computermann fiel in sich zusammen und eine Stimme, ähnlich einer Alarmsirene, piepste: „Fehler in System 5, Ausfall der Überwachungseinheit Georg.“

Hastig packte sie ihre Sachen und verschwand in die frühherbstliche Dunkelheit.

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