kreuzberger dichtungswerk

Michael Kreutzer, Ich bin ja hier. Rede eines toten Physikers an seine jüngeren Kolleg*innen

Projektionen vor der Lesung:

Jetzt wird der Weg vom schottischen Schaf zum Lamm Gottes noch einmal gegangen.

Detlef Linke 1997, Am Anfang stand der Klon

Er hatte einen Vogel in sich sitzen, das fühlte er. Aber es war ein seltsames, unkörperliches, unbenennbares Vögelchen, das im übrigen auch nicht vogelhafter war als er selbst.

Olga Tokarczuk 1998, Taghaus Nachthaus (Marek Marek)

MICHELE

Liebe Trauernde… Ja, ihr kichert, wenn ich euch so anrede, aber… Aber wir sind unter uns, und da kann ich‘s ja zugeben: Ich habe mich schon echt erschrocken, als ich vorgestern hörte, dass ich verstorben bin. Und an meinem Totenbett wurde ich wirklich traurig, ich hab tatsächlich geheult, als ich mich da so liegen sah, ganz friedlich unterm Laken, ohne eine zitternde Brust, die Sonne schien so ins Zimmer, die tote Haut war ein bisschen gespannt, ich sah viel jünger aus. Fast wie ein Kind, bei dem aber nun absolut nichts mehr ankommt, kein liebes Wort, keine Streicheleinheit, einfach nichts mehr. Mir ging es, wie’s wohl allen Hinterbliebenen geht: Ich merkte, dass ich diesen Kerl, Michele K., wirklich lieb gehabt habe.

ALLE KOLLEG*INNEN

(durcheinander, leise) Hatten wir dich auch, Michele.

ERSTE KOLLEG*IN

(nicht sehr laut, aber bestimmt und deutlich) Aber du bist ja hier, Michele.

MICHELE

Tja, ich bin ja hier!

Klar, ich, Michele K., stehe hier vor euch, so wie ich immer war, unbeschädigt, das heißt, mit allen Macken, die ich auch vorher hatte, nur das Herz ist irgendwie wieder in Ordnung, oder? Und ihr grinst mich an wie die Honigkuchenpferde, trinkt euren Sekt, und das ist ja auch absolut okay. Ich frage mich selber, warum ich – warum ich diesen – Depri schiebe. Weil jetzt das Weltalter des Menschen untergeht bzw. da vor uns im Sarg liegt wie ein Stück Fleisch nach dem Verfallsdatum? Das wär doch Quatsch, wir sagen ja: Wenn wir’s schaffen, dann beginnt es erst, das Weltalter des Menschen. Nein, es ist komisch: Wenn ich versuche rauszukriegen, warum ich so todtraurig bin, und todtraurig ist echt ein gutes Wort dafür, dann seh ich mich immer als Jugendlichen unter einem Baum sitzen und eine Geschichte lesen, und vor allem sehe ich immer ein Bild, das in der Geschichte vorkam. In dieser Geschichte hat der Haupttyp immer nur gesoffen, und zwar weil er meinte oder wohl auch spürte, er hätte da einen kleinen Vogel im Brustkorb, der flattert und flattert, weil er wohl raus will, der Vogel, aber nicht raus kann, und das konnte ich mir so gut vorstellen: den Brustkorb mit den Rippen als Käfig und die Haut so als Tuch drüber. Und dann hat sich Marek Marek, so hieß der Typ, totgesoffen, er war sozusagen am Ziel, und das Vögelchen flatterte nicht mehr und nie mehr. Ich war total fertig deswegen, aber nicht so sehr wegen Marek Marek, sondern wegen des Vogels. Und da dachte ich, so einen Vogel hast du auch in der Brust, oder eigentlich haben wir ihn alle, und wenn wer stirbt, den wir lieb haben, dachte ich, dann trauern wir vor allem um diesen inneren Vogel, der da nun liegt, wie tote Vögel so daliegen, auf dem Rücken mit den Krallen nach oben, und niemals rausgekommen war. Man weiß ja gar nicht, was das für ein Vogel ist, man wird’s nie rauskriegen, eigentlich hat er keine Eigenschaften und ist doch in jedem Menschen anders, eigentlich ist dieser Vogel nur das Flattern selbst, und nun flattert er nicht mehr.

ERSTE KOLLEG*IN

Meinst du denn, dein eigner Vogel flattert jetzt nicht mehr?

MICHELE

(denkt kurz nach) Lassen wir das, Leute. (noch eine kurze Pause) Wahrscheinlich kommt das nur, weil mein Herz plötzlich wieder gesund ist, die Rhythmusstörungen sind weg. (denkt nach) Hättet ihr gedacht, dass sich die Dinge so schnell entwickeln?

ALLE KOLLEG*INNEN

(ernst, kopfschüttelnd) Nein. Niemals.

MICHELE

Ich meine, klar: Biotechnologie, Neurobiologie, Nanotechnologie, Informationstechnologie – alles okay, aber so alles zusammen, Hand in Hand, im selben Rhythmus… Aber das Schärfste ist: Wir sind echt Philosophen geblieben, Theologen, Geisteswissenschaftler, alles was ihr wollt, wir stehen eigentlich voll in dieser Tradition…

ALLE KOLLEG*INNEN

Du warst der Philosoph, nicht wir.

MICHELE

Klar, okay, ich hab das mal studiert, noch vor der Mathematik und Physik, für die ich sozusagen ein angeborenes drittes Händchen hatte, das dann mein rechtes wurde (mit der Folge, dass ich im Übrigen wohl zwei linke Hände hätte, hat man mir oft gesagt, egal). Ich hab das geliebt, die Philosophie. Wir hatten in Philosophie einen Prof, einen von den Übriggebliebenen, die’s heute nicht mehr gibt, der kam zu seiner ersten Vorlesung zu spät, es ging um Ethik, Moral und diese Dinge, der hatte die Hausschuhe noch an und seine Lesebrille vergessen, aber er sprach sowieso fast immer nur frei, der guckte so hoch zu uns im Hörsaal und sagte: Sprach der Walfisch zum Thunfisch: Was tun, Fisch? Und wir dachten: Wie bitte? Und er weiter: Sagt der Thunfisch zum Walfisch: Du hast die Wahl, Fisch.

Damit, sagt er, wär er bei einer der Grundfragen der Ethik, der Freiheit der Entscheidung. Und manche Neurobiologen würden das ja bestreiten, dass der Mensch die Wahl hat, und damit waren wir schon mitten im Thema (…)

ZWEITE KOLLEG*IN

Das waren die grauen Vorzeiten, Michele. Da gab’s uns noch nicht.

MICHELE

(nickt) Das waren die grauen Vorzeiten: „Können Computer Gefühle entwickeln“ und so weiter – heute wissen wir: sie können. Unser Prof sagte aber damals: Nein, können sie nicht, gibt’s nicht viel wichtigere Probleme, mit denen wir uns auseinandersetzen sollten? Damals ging’s noch um die Armut, die Zerstörungen durch Kriege und Bürgerkriege, die Umwelt, um die Demokratie, alle die Kämpfe da draußen…

ERSTE KOLLEG*IN

… die ihr gründlich verloren habt.

ZWEITE KOLLEG*IN

Heute geht es draußen nur noch um die Sicherheit.

DRITTE KOLLEG*IN

Weswegen wir ja hier drinnen sind, und nicht da draußen.

MICHELE

Ganz genau.

Also, die Frage „Können Computer Gefühle haben?“ interessierte meine Freunde und mich eher weniger. Wir saßen abends lieber mit‘m Sechserpack Schultheiß am Kanal, sahen aufs Wasser, in dem sich die Lampions der Kneipen gegenüber spiegelten, die uns meistens zu teuer waren, und wir dachten: Denken wir doch lieber erstmal über unsere Gefühle nach. Wir dachten: Wie schön bunt spiegelt sich da die Gastronomie im Wasser, aber uns fiel ja alles auseinander, die Stadt, die Wissensgebiete, die Lebensformen, die Welt, alles. Die Leitartikel waren damals voll davon, die einen priesen die Vielfalt, die Vielfalt! – und die andern beklagten den Verlust der Einheit, großes Freudengeschrei und großes Gejammer, und immer großes Tamtam auf beiden Seiten, als wäre das alles neu. Aber wir wussten dann nach zwei, drei Semestern: Nein, ist nicht neu, ist seit mindestens 250 Jahren immer mehr oder weniger dasselbe. Dieselbe Litanei: Gott ist tot, die wahren Werte sind weg und starke neue Werte sind nicht in Sicht, denn Nietzsche ist ja auch tot, es regiert der Mammon und so weiter, die Welt einschließlich unserer eigenen Werke ist uns fremd, wir sind zerrissen und irgendwie nicht wir selbst, was ja vielleicht auch gar nicht nötig ist, denn der ganze Sinn ist ja auch irgendwie weg, und nach dem Tod ist sowieso alles aus, wenn da nicht vielleicht irgendwas doch ist, nach dem Tod, und vorher empfängt uns noch die heilige Dreifaltigkeit von Demenz, Organverlust und Schlaganfall, und die Apothekerzeitung schreibt, wie du dem vorbeugen kannst…

ZWEITE KOLLEG*IN

Und: Hattet ihr der Litanei was entgegenzusetzen?

MICHELE

(denkt nach, dann) Ich will euch dazu was erzählen, hab ich noch nie erzählt: In dieser Zeit, Ende der 80er Jahre, wurde meine Mutter todkrank, sie starb dann auch bald. In der Zeit, als es mit ihr zu Ende ging und sie keine Lust mehr hatte, dagegen anzugehen, lud sie in ihrem Altersheim Freunde ein und zeigte ihnen auf einer großen Leinwand ein Bilderbuch, das sie sehr mochte, und die Scans für Projektionen hatte ich gemacht. Darin ging es um eine sterbende Gans, und zwar besucht der Tod diese Gans und geht mit ihr so durch die Landschaft, und der Tod ist ganz lieb, hat so ein weißes Gewand an und einen ganz niedlichen Totenkopf. Und die Gans schläft am Ende ganz friedlich ein. Ein toll gezeichnetes Buch, meine Mutter fand es sehr gut, es tröstete sie, und sie dachte, es tröstet vielleicht auch andere. Die Leute im Heim wollten das aber eigentlich alles gar nicht hören und gingen ein bisschen verlegen aus dem Gemeinschaftsraum. Und ich selber – ich fand das Buch grauenvoll. Und zwar aus einem einzigen Grund. Wisst ihr warum?

DRITTE KOLLEG*IN

Mach’s nicht so spannend, Michele.

MICHELE

Aus einem einzigen Grund: Dieser niedliche Tod hatte keine Augen.

Ich war damals grad mal zwanzig, und ich ging nach Hause und schrieb, was ich damals noch tat, eine Geschichte. In der besucht ein Typ mit Trenchcoat und Sonnenbrille einen jungen Mann. Der junge Mann heißt Henry, und der Typ, der ihn besucht, ist der Tod. Ich wusste ja aus einer anderen Geschichte, dass der Tod (oder war das der Teufel? – egal) keinesfalls ein Gerippe mit Sense ist, sondern ein gut aussehender Mann mit sehr gepflegten Manieren. Der junge Mann sagt zum Tod: Nett, dass Sie mich besuchen, rauchen wir eine zusammen. Der Tod duzt den jungen Mann, sehr höflich natürlich, aber der Tod kennt bekanntlich kein „Sie“, und er sagt: Rauch besser nicht, sonst komme ich wahrscheinlich bald wieder, aber der junge Mann bleibt dabei: Rauchen wir eine! – und dann stellt sich gleich heraus, der Tod raucht auch gern. Der Tod sitzt in einer Ecke des Zimmers im Sessel, so im Halbdunkel, weil nur eine Schreibtischlampe an ist. Henry läuft vor seinen Augen, die ja hinter der Sonnenbrille nicht zu sehen sind, im Zimmer hin und her und erzählt immer aufgeregter von seinen Plänen, und der Tod sagt immer: Ja gut, versuch das, das ist ein guter Gedanke, Henry. Im Radio läuft leise Tangomusik, und Henry erzählt was vom Mythos der tanzenden Revolution in Lateinamerika und sagt, er selber könne aber höchstens ein bisschen Walzer, und da sagt der Tod: Ich zeig dir, wie Tango geht. Sie tanzen, und Henry wird ein bisschen schwindelig, und am Schluss meiner Geschichte nimmt der Tod seinen Hut und sagt: War nett, dich kennengelernt zu haben, und Henry sagt: Ganz meinerseits, und dann fragt Henry aber doch, schon draußen an der Haustür: Warum nehmen Sie eigentlich Ihre Sonnenbrille nicht ab? Es ist doch Nacht. Der Tod fasst sich an die Brille und sagt: Oh, die habe ich ganz vergessen. Und meine Geschichte endete dann mit dem Satz: Der Tod nimmt seine Brille ab, und Henry sieht.

Den fand ich irgendwie klasse, diesen offenen Schluss. Ich betonte ihn ja so: Der Tod nimmt seine Brille ab, und Henry sieht.

ERSTE KOLLEG*IN

Tja. Aber was sieht Henry denn?

MICHELE

Ich hatte keine Ahnung! Als ich meiner Mutter die Geschichte dann vorlas, lag auf ihrem Nachttischchen, wo sonst immer Romane gelegen hatten, die sie immer wieder las – sie fühlte sich, seit sie krank war, nur in Romanen wohl, die sie schon kannte – also, da lag da ein Büchlein mit Heiligenlegenden, und sie gestand mir, sie sei in die Kirche zurückgekehrt. Sie wirkte frischer und kräftiger als beim letzten Mal und machte sogar Pläne, was sie da noch tun könne in ihrer Gemeinde. Meine Frage, was dieser Henry da vielleicht sehen könnte, wenn der Tod seine Brille abnimmt, interessierte sie nicht besonders, und ich dachte: Sieh mal an, auch Franzi (ich nannte meine Mutter beim Vornamen, sie hieß Francesca) hält den Tod nicht aus, auch sie muss sich vorstellen, dass sie danach weiterlebt, und zwar sie persönlich. Die leeren Augen von ihrem Gänsetod hatten sich für sie inzwischen mit dem Bild des Heilands gefüllt, und so ein bisschen Idylle mit Wiesen und Wölkchen war auch dabei, und sie mittendrin. Und ich dachte: Franzi, du Ratte (ich dachte echt: Du Ratte!), vor sieben, acht Jahren hast du mir meinen kindlichen Glauben abgewöhnt, und jetzt haust du einfach so ab ins Paradies. Ich meine, was hatten wir früher zusammen gelacht über den Wunderglauben der Katholiken: dass die Wunder von Jahrhundert zu Jahrhundert immer lumpiger werden, ich meine, früher sind da Tote auferstanden, heute springt vielleicht mal irgendwo ein Wässerlein aus irgendeinem trocknen Felsen… Ich sah aber auch, wie glücklich sie war, und ich konnte nichts anderes sagen als: Franzi, du hast genau das Richtige gemacht. Und sie sagte: Michele, vielleicht hörst du doch mal auf, Geschichten zu schreiben, möglicherweise kannst du das nicht.

DRITTE KOLLEG*IN

Warum erzählst du uns das heute?

MICHELE

Okay, warum ich das erzähle. Meine Mama hatte sich einer Gemeinschaft angeschlossen, die in meinen Augen seit fast 2 000 Jahren vor allem eines gemacht hat: Verbrechen auf Verbrechen gehäuft. Und warum ist meine Mutter dahin zurückgekehrt? Wegen des Unmaßes an Trost und Hoffnung, die sie den Menschen spendet, vor allem, wenn’s hart auf hart kommt, das hatte ich ja bei ihr nun gerade live erlebt: Die Kraft wohnt immer noch in den Phantasien über Gott, Rettung, Erlösung, Auferstehung; man kann so tun, als interessierte einen das nicht und sagen: Ist alles Quatsch, aber jeder Organismus will leben, und irgendwie taucht das alles wieder auf, unter irgendwelchen Masken, meist unter grässlichen. Denkt ans Tausendjährige Reich oder andere Monster.

Also ging’s darum, diesen ganzen Krempel neu zu denken – ich meine, den philosophischen Eierköpfen, geht’s ja immer um die Frage: Wie lässt sich was denken? – , und dann…

ZWEITE KOLLEG*IN

Warum erzählst du uns das heute?!

MICHELE

Ihr habt recht, ich halte offenbar ‘ne Totenrede, ein bisschen Erinnerungen und Lebensgeschichte und so weiter, und das ist jetzt doch alles Quatsch, oder? Also – lassen wir das.

Es kam ja letztlich auch nichts bei raus. Ich merkte, es waren die klügsten Texte über Gott und die Hoffnung und die Erlösung schon im 20. Jahrhundert geschrieben oder wiederentdeckt worden, und zwar angesichts der Katastrophen des 20. Jahrhunderts, interessanterweise vor den einzelnen Katastrophen, die Leute, die ich damals wie ein Blöder las, wussten meistens, was auf sie zurollt. Und? Hat im Grunde kein Schwein interessiert, war zu kompliziert oder was… Ich meine, der Kern meiner Sache war damals, den Leuten zu sagen: Ja, Erlösung ist, aber nicht durch uns, Hoffnung gibt es, aber nicht für uns. Erklärt den Leuten mal, was damit vernünftigerweise gemeint ist und welche Schlüsse man daraus für den Alltag ziehen kann…

Ich hatte den Rat von Francesca, meiner Mutter, befolgt und angefangen, neben allem anderen Mathe und Physik zu studieren, ich dachte, das ist das schönste Hobby überhaupt, solchen irren Spaß hat mir das gemacht, ist wie Schachspielen. Und damals fing das mit dieser verschärften Bastelei am Menschen an, dieser Bastelei an Körper und Hirn, das war die Zeit der Exoskelette und Mensch/Maschine-Kombinationen und Replikantenfilme; und wenn die Leute überhaupt irgendwo hinguckten, dann dahin: Was passiert denn da?

DRITTE KOLLEG*IN

Der sog. Transhumanismus, oder was?

MICHELE

Genau. Ja, was passiert da mit den Menschen? Ich dachte, das ist ja die größte Blödheit, der größte Frevel überhaupt.

ERSTE KOLLEG*IN

Ja, du hast – da doch mitgemacht.

MICHELE

Ich war einer der bekanntesten Physiker damals, mich haben sie als einen der ersten gefragt.

ZWEITE KOLLEG*IN

Und?

MICHELE

Ich dachte anfangs, okay, ich geh da rein, ich bring die Sache von innen her zu Fall. Oder biege sie um. Ich meine, ich fand das alles einen grauenvollen Abweg, aber die Sache selbst interessierte mich natürlich ungemein, ich war ja inzwischen Fachmann. Man kann nicht gut sein in seinem Fach, wenn man nicht immer weiter macht, und die Leute in diesen Forschungen machten immer weiter. Du kannst nicht sagen: Dieses Experiment müssen wir unbedingt machen und dann: Oh oh, wir haben ethische Bedenken, nein, machen wir nicht.

DRITTE KOLLEG*IN

Und so kamst du nach Silicon Valley, oder was?

MICHELE

Genau.

DRITTE KOLLEG*IN

Und warum sind wir jetzt hier?

MICHELE

Na, weil wir uns von denen getrennt haben, das wisst ihr doch.

ZWEITE KOLLEG*IN

Wegen der Katze?

MICHELE

Genau, wegen der Katze. Es gibt kein besseres Modell für eine Katze als eine andere Katze, hat mal ein schlauer Mensch gesagt, und jetzt kommt’s, er hat hinzugefügt: Und besser noch dieselbe Katze. Also habe ich gesagt: Hört auf mit euren wilden Experimenten – wenn wir nicht einen einzigen Menschen nachbauen können, werden wir mit alldem nur Monster erzeugen. Also fingen wir genau damit an: Bauen wir Menschen nach, so wie sie sind, erst wenn wir da ankommen, könnt ihr über irgendwelche Verbesserungen nachdenken… Und eigentlich nur aus Quatsch, um dafür richtig Geld zu bekommen, habe ich es genannt: das Auferstehungsprojekt, also, klar, auf Englisch: The Resurrection Project, kurz: Repro. Die Kohle floss, alle Staatenlenker, die vorher schon dachten, sie hätten den Schlüssel zum Heil, dachten jetzt, sie hätten endlich den richtigen Schlüssel… Anfangs ging’s mir nur darum, die Beweise dafür zu finden, dass dies nicht gehen kann. Dann haben wir diese Riesenfortschritte gemacht, brauche ich euch nicht zu erzählen, und die Sache hat sich auch für mich gedreht. Ich dachte, wie ich früher gedacht habe: Weil die Menschen vor dem Tod wegrennen, bringen sie einander im Namen des Lebens um… Also: Nehmen wir ihnen diesen Tod. Überbringen wir die Botschaft der Auferstehung – und zwar so, dass sie sie glauben können: nämlich, weil sie sie sehen. Und später hörte ich dann diese junge Schwedin rufen: Unite behind the science! – und ich dachte: Genau, das isses.

Aber nicht im Traum hätte ich gedacht, dass ich selber würde mal von der anderen Seite auf euch zukommen dürfen: nicht mehr aus dem Kreis derer, die da auf den Messias warten, sondern von der Seite des Erwarteten her, als selbst schon so’ne Art Christus. Über den da im Sarg könnt ihr sagen: Ecce homo, sehet den Menschen. Und ich stehe daneben und bin jetzt der Übermensch, der Messias – oder was? – Ich habe nicht mal gemerkt, dass ich gestorben bin.

ERSTE KOLLEG*IN

Stimmt. Wir haben es dir sagen müssen.

MICHELE

Ihr habt es mir gesagt, nachdem ihr mich sozusagen erweckt hattet. Und als Medaille hängt ihr mir heute ein Osterei um den Hals, hartgekocht am goldenen Fädchen, welch liebevolle, ironische und sensible Ehrung…

ZWEITE KOLLEG*IN

Du bist eben nicht Christus, du bist der Osterhase, Michele.

MICHELE

Okay, ich bin der Osterhase. Aber bin ich am Ziel meiner Hoffnungen? Wisst ihr ich stehe hier, und mir ist schwindlig, wie Henry beim Tango mit dem Tod, und diesen Schwindel von Henry verstehe ich erst heute, das ist so eine Mischung aus Macht und Glück und Grausen und Trauer.

DRITTE KOLLEG*IN

Du bist einfach hier, Michele.

MICHELE

Ja, ich bin ja hier.

Wisst ihr, dass auch wir unentwegt Monster erzeugt haben? (tritt ans Fenster)

Wenn wir aus dem Fenster sehen, dann blicken wir da auf diesen großen grauen Kasten, man sieht ihn von fast überall auf dem Campus, diesen Betonfels, dieses fensterlose Ding, das die Kritiker*innen unter uns den „Hades“ nennen – dieser Seelenfriedhof, dieser gigantische Rechner, den der Kasten in Hunderten von Kellern beherbergt und auf dem die Seelen unser Probanden als analoge Kopien ihrer selbst weiter existieren, ein wahrlich grauenvolles Ding!

Erinnert ihr euch an die Leute, die meinten, diesem Seelenknast den Namen „Eden“ geben zu dürfen, nur weil die Seelen darin mit ihren eigenen Projektionen spielen dürfen?

ERSTE KOLLEG*IN

Ja, sie brauchen nur zu sagen: Mama, ich brauch dich – und schon ist Mama da…

MICHELE

Ich habe sie nie akzeptiert, diese Hohenpriester der Fiktion, die sich da seit den 70er Jahren meines Jahrhunderts zu Wort meldeten und  meinten, den Unterschied zwischen Fiktion und Wirklichkeit einebnen zu können oder gar die Fiktion, die Simulation, die Droge als die höhere Realität feiern zu können, als die wirklichere Wirklichkeit…

DRITTE KOLLEG*IN

Wir auch nicht. Ich habe gesagt: „Hauen wir diesen Neo-Hippies doch ein paar in die Fresse, dann wissen Sie wieder, was das Reale ist“…

ZWEITE KOLLEG*IN

Das haben wir natürlich nicht gemacht…

MICHELE

Da unten im Hades lassen sich immer mehr gespeicherte Seelen oder Bewusstseine auf immer löschen.

ERSTE KOLLEG*IN

Michele! Wir wissen alle, warum sie sich abschalten lassen.

MICHELE

Eben. Wir können ja mit diesen Seelen kommunizieren. Nicht wahr, wir können unsere tote Mutter dort anrufen und fragen: „Na, Mama, wie geht es dir?“, und sie sagt: „Gut, ich habe gerade diesen Kotzbrocken von Nachbarn umgebracht“, und dann rufen wir diesen Nachbarn an, und der sagt: „Mir geht’s echt prima, ich hab gerade Kartoffelsuppe gekocht, deine Mutter kommt gleich zum Essen…“ Sie denken, sie leben in Gesellschaft, dabei sind sie allein und spielen nur mit ihren eigenen Vorstellungen. Immer mehr scheinen das zu merken. Woran merken sie das?

ZWEITE KOLLEG*IN

Gute Frage. Denn die Simulationen, in denen diese Seelen leben, sind absolut perfekt. Sie können sehen, hören, anfassen und sogar machen was sie wollen. Perfekte Freiheit.

MICHELE

Wie auch immer sie es merken: Ihnen fehlt die Wirklichkeit. Diese Seelen leben von Traum zu Traum, aber wie lange erträgt der Mensch das Erwachen, wenn er immer nur in einem neuen Traum erwacht? Nun, ihr wisst, wie diese Geschichte von der Kartoffelsuppe ausgeht.

DRITTE KOLLEG*IN

Ja, es ist deine Mutter, von der du hier erzählst.

MICHELE

Vor sechs Jahren rief mich meine Mutter an und sagte: „Michele, bitte, lösche mich.“ Ja, ich tat ihr den Gefallen (klar wusste ich, dass die Rechner, auf denen der Hades läuft, in Wahrheit nichts vergessen).

ERSTE KOLLEG*IN

Du brauchst nur auf Wiederherstellen zu klicken, Michele, und dann die Seele deiner Mama mit ihrem Körper zu verbinden.

MICHELE

Ich glaube nicht, dass meine Mutter das will… Nun, diesen Hades können wir vermutlich bald auflösen, denn…

ERSTE KOLLEG*IN

Du bist ja hier. Und du bist nur der erste.

MICHELE

Ich bin ja hier, und, wie soll ich das sagen, ich stehe im Fleisch… Ich bin hier, eins zu eins, das perfekte Double, die Wiederholung, die Kopie, die das Original nicht abbildet, sondern ist. Ich blieb Ich, da war ein Tod und war keiner, und wir – wir sind am Ziel.

Aber ich bin ein trauriger Messias.

DIE KOLLEG*INNEN

Ja, warum denn, zum Teufel?

MICHELE

Michele hört die Frage nicht oder ignoriert sie und tritt an den „Sarg“ (in der Lesung war dies ein Spiegel).

Michele, ich trauere um einen kleinen, schwarzen, struppigen und namenlosen Vogel, der in deiner Brust flatterte und flatterte und jetzt nicht mehr flattert und nie mehr flattert. Nie hast du so geweint wie um deinen ersten Wellensittich. Sag mir, wie hartnäckig kann sie sein, diese alberne Trauer um ein Vögelchen, das nichts ist als eine flatternde Metapher?

ZWEITE KOLLEG*IN

Das wird vorbeigehen, Michele.

MICHELE

Klar, das wird vorbeigehen. Ich werde niederknien (kniet nieder) und in aller Demut sagen: Ich bin auferstanden. (steht wieder auf)

Leute, ich bin der Osterhase. Und ihr werdet leise die frohe Botschaft verbreiten:

ALLE KOLLEG*INNEN

(leise) Fürchtet euch nicht.

(Pause, etwas lauter) Unite behind the science.

Projektionen nach der Lesung:

1
Am folgenden Tag stellte Michele K. das neue Projekt vor.

2
Sein Titel lautete: Salvation (Erlösung)

3
als hört ich eine frist. ich sah die farbe der trauer,
ich sah die farbe des glücks, sie waren ähnlich. das ist,
was herzen lernen, wenn man sie lässt: sterblichkeit.

Monika Rinck, was herzen lernen

Lesefassung 2019-09-27

Die Erzählung spielt an einer Stelle an auf das Bilderbuch „Ente Tod und Tulpe“ (2007) von Wolf Erlbruch (München: Verlag Antje Kunstmann). Allerdings ist statt von einer Ente hier von einer Gans die Rede.

Bildausschnitt aus Erlbruch, Wolf,
Ente Tod und Tulpe

*

Druckversion (PDF)

Ein Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert