kreuzberger dichtungswerk

Anne Lorquet, Die Invasion der Barbaren

ich habe das Bild von
Schlammströmen, glühenden Lavaströmen
Hasskontinente
aus unsagbarer rasender Wut
Afrika  Amerika  Asien
terrorisierte Völker, die aus ihrem Land herausgerissen wurden
oder versklavt
alle diese kolonisierten Menschen rund um die Erde

und schließlich Europa… die Juden

oh aber das ist doch alles vorbei
Menschen
weiße schwarze  rote  gelbe Menschen
haben dagegen gekämpft
gekämpft darum, den Stolz wiederzuerlangen
die Ehre von entmenschlichten Männern und Frauen
es gibt Gesetze
es gibt die Zivilisation, die ermöglicht hat, all das zu stoppen
und es gibt die Religion, die Liebe zum Nächsten

ach ja die Gesetze
man zertrampelt sie jeden Tag

die Zivilisation! Ach ja
was Sie nicht alles sagen!
in ihrem Name wurden die sogenannten Barbaren vernichtet

und die Religion…

und der arme Jesus Christus
ist er derjenige, der angeordnet hat, dass alle diese Wesen keine Menschen sind,
nicht menschenwürdig
sondern Barbaren
ist er der Kolonisator?

und die gute Maria
unterstützt sie die Grausamkeit gegenüber all diesen Wesen?
und unsere liebevolle Kirche
ist dies die Barmherzigkeit, die sie lehrt?

wer sind eigentlich die Barbaren?


es ist eine lange, lange unendlich lange
Spur der Zerstörung, die nicht erklärt werden kann
Spur des Hasses
der Verachtung

ach ja, wir können stolz sein
auf die Zivilisation der Kolonisation

ein Bild:
sie sind im Schiff verfrachtet, aufgestapelt
da unten im Laderaum zusammengequetscht
sie wissen nicht warum
wo fahren sie hin   sie mussten alles zurücklassen
aber warum?
gefangen gehalten    aber warum?

eine lange unterschwellige Spur von Hass  Angst  Wut
ein karbonisierender Schlamm, der schwelt

es brodelt lange bevor es in Zerstörungsfeuer explodiert

nach und nach
haben die europäischen Barbaren
alles besetzt
ganz Amerika

und alles mit der Säure ihres Hasses verbrannt
was aus Schönheit, Liebe, Harmonie mit der Natur
gebaut war

die haben ihre Sklaven
von einem Kontinent zum anderen transportiert
die Sklaven haben für sie
ihr großes Amerika gebaut
auf dem Boden der sogenannten „Wilden“,
die wild gejagt und eliminiert wurden
dort bauten sie ihre Türme immer höher

Hass ruft Hass hervor
ein Schwelbrand, der sich in jedem Schlupfwinkel
unter jeder Wurzel
von Bäumen, Pflanzen, Leben
einschleicht
immer bereit,
sich wieder zu entflammen

ach wir sind doch mit den Diktaturen fertig
mit der Sklaverei
mit der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen
jetzt sind doch alle Menschen gleich

aber immer wieder steht der Hass auf
immer schwelt Gewalt
es gärt
lange Zeit bevor es ausbricht



03.2019

3 Kommentare

  1. Ich mag manche der lyrischen Skizzen von Anne sehr (von denen es für mich zu wenige gibt in ihrem Blog), ich mag ihre absurden und surrealen Texte, viele ihrer Aquarelle, Fotos; und ich mag das gesamte “Lost-in-translation-Universum der französisch-deutschen Autorin Anne Lorquet”, das in den Lesungen so viel greifbarer ist als auf dem Papier oder dem Monitor.

    An ihrem Gedicht “Die Invasion der Barbaren” schätze ich die humane Empörung, die ihm zugrunde liegt. Und Anne, wenn sie dieses Gedicht vorliest, bezeugt ihre Empörung glaubhaft.

    Wenn das Gedicht jetzt wieder so nackt vor mir liegt (ich bin ja Administrator dieser Website), dann bleibt mir von alledem sehr wenig. Oder schlimmer: es wird für mich zum Beispiel all dessen, was Autor*innen in unserem selbstgewählten “Zwischenraum” kdw – der auch ein Raum zum Lernen ist – gerade NICHT tun sollten.

    Denn so entsteht ein “politisches Gedicht”, das beides nicht ist: es ist weder politisch, noch ist es ein Gedicht. Denn eine politische Stellungnahme entsteht nicht dadurch, dass ich ein Gut/Böse-Bild in die Welt zeichne und mich auf die gute Seite stelle – die Welt war nicht aus “Schönheit, Liebe, Harmonie mit der Natur” gebaut, bevor dann die westliche Zivilisation und der Kolonialismus entstanden. Und ein Gedicht entsteht – formal – auch nicht automatisch dadurch, dass ich meine Zeilen enden lasse, bevor sie den Rand des Blattes erreichen.

    Was geschieht denn, wenn wir beginnen, “Afrika, Amerika, Asien” als “Hasskontinente” zu bezeichnen? Wenn wir den Flüchtenden pauschal unterstellen, sie kennten nicht die Gründe für ihre Flucht (“sie mussten alles zurücklassen / aber warum?”)?

    Kurz: Ich fürchte, Anne verläuft sich mit ihren Gedichten dieser Art.

    Ich selber halte mich an Annes “kleine” Skizzen, die so viel mehr über “uns und Gott und die Welt” aussagen als ihre politischen Rundumschläge; und manchmal übersetze ich mir solche Momentaufnahmen in meine Sprache, z.B. Annes Gedicht “Glück”.

    Glück
    die Sekunde der Ewigkeit
    in der wir zusammen
    klingen

    wo wir ruhen
    im Aufruhr: da

    nehmen wir Anteil
    am Großen

    1. An Michael. 22.06.20
      Es interessiert mich nicht, ob es „ein politisches Gedicht oder nicht. Es ist nicht der Punkt. Es ist ein Text, Gedicht oder nicht ist egal. Und es geht nicht um Gut/Böse. Es geht um Unterdrückung, um Hass, Verachtung, Zerstörung und Ausbeutung von Menschen.
      Dieser Text ist der Ausdruck einerseits meiner Gedanken über die Ursachen von Rassismus in Amerika, als grundlegende Ursache, die Kolonisierung von den Afrikanern und von den Indianern –verbunden mit immer noch bleibendem Rassismus in USA und Lateinamerika. Es wurde schon einiges verändert, aufgrund der Kämpfe, aber die Basis dieser Haltung ist immer noch anwesend.
      Es ist auch Ausdruck meiner Empörung über die Europäer, die sich „supérieurs“ – höher, überragend- sahen über die anderen „Rassen“, und dadurch sich berechtigt fühlten, sie zu eliminieren oder auszubeuten.
      “sie mussten alles zurücklassen / aber warum?”: es geht nicht um Flüchtlinge, sondern um afrikanische Sklaven, die nach Amerika transportiert wurden. Da steht auch, wenn du lesen kannst: „gefangen gehalten“
      Und weil wir das Thema „Schwelbrand“ (in 03.2019) hatten, das war das Bild was in mir war.
      Und plötzlich scheint dieser Schwelbrand der Wut auf Rassismus wieder überall erwacht zu sein…
      Anne

  2. Lange habe ich überlegt, ob ich einen Kommentar schreiben soll, eine Kritik der Kritik der Kritik ist das ja wohl mittlerweile. Erst wollte ich nichts schreiben, jedenfalls nicht hier, aber die Sache (Annes Text und Michaels Kritik) geht mir nicht aus dem Kopf, also nun doch ein paar Worte: Annes Text hat jede Berechtigung auf dieser Website zu stehen und damit im „Zwischenraum“ des KDW veröffentlicht und diskutiert zu werden. Wenn nicht hier, wo sonst? Sie hat ihre Gedanken aufgeschrieben, sagt sie. Gedanken, die wir nachvollziehen, ja sogar teilen können. Wir haben sie auch, diese Gedanken. Aber wir schreiben sie nicht auf, zumindest ich nicht. Warum nicht? Alles zu bekannt, schon zu oft gedacht, gesagt, geschrieben? Ja, möglicherweise. Und für mich persönlich gilt auch noch das Gesetz der Form, des Stils. Bevor ich auch nur ein einziges Wort geschrieben hätte, hätte ich mich innerlich schon zerfleischt auf der Suche nach der „richtigen“ Form. Die kann es nicht geben, drum kann ich sie auch nicht finden, drum schreib ich nichts zum Thema Rassismus. Ist das die Lösung? Stumm bleiben? Sich zurückziehen auf die Ausrede: „Ich bin nicht betroffen, drum darf ich nichts dazu schreiben, weil das wäre ja Anmaßung.“ Ja, dies ist eine Ausrede. Betroffen sind wir alle, und wenn auch nur dadurch, dass uns dasThema nicht mehr loslässt. Die Suche nach der richtigen Form? Ach vergiss es, s.o. Und darum bewundere ich Anne. Sie setzt sich hin und schreibt ihre Gedanken auf. Punkt. Gefällt vielleicht der einen oder dem anderen von uns nicht, so what? Wir schreiben auch Texte, die Anne nicht gefallen.
    Nicht okay finde ich es, Empfehlungen auszusprechen, im Sinne von „Schuster, bleib bei deinen Leisten, bzw. Anne, bleib bei deinen Blümchen und Herzchen Gedichten, die kannst du besser.“ Sorry, Anne wg. Blümchen und Herzchen, du weißt ich liebe deine filigranen, wie hingetupften kleinen und größeren Gedichte. Aber manchmal ist eben nicht der Moment dafür.

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