kreuzberger dichtungswerk

Sabine Wilde, Leid und Menschlichkeit. Eine wahre Geschichte

Leid und Menschlichkeit. Erzählung
Lockdown-Telefonlesung 30.04.2020

Sie zitterte. Kälte war es nicht, nein, ihr Körper reagierte auf das Grauen und Leid, das sie empfand. Ihren Oberkörper hin- und herbewegend saß sie auf dem Doppelstockbett und wollte nur, dass der Schmerz und die Erinnerung verschwanden. Neben sich hörte sie ihre Tochter Grete schluchzen, doch sie hatte nicht den Impuls, sie zu trösten.

Die Luft im Keller war stickig, es roch nach Angst, Schweiß, Verdauung und Feuchtigkeit. 150 Menschen waren hier zusammengepfercht, nur den nötigsten Platz für sich habend, dumpf auf das Ende des Fliegeralarms wartend. Ein Bombeneinschlag erschütterte plötzlich den Raum. Menschen schrien panisch auf. Sie hatte nicht einmal mehr dazu die Kraft.

Gestern war noch alles fast in Ordnung. Natürlich, das Ende des Reiches war vorherzusehen und die Bombenangriffe wurden so existenzbedrohlich, dass nur noch Verdrängung und Gewöhnung an das Schreckliche ein Funktionieren im Alltag ermöglichte. Sie stiegen auf den Weg zur Arbeit über Leichenberge, sahen nach Angriffen Feuerstürmen fast ganze Straßen verwüstet, verletzte Menschen röchelnd in Straßengräben liegen und hörten das Toben der Artillerie immer näher kommen. Sie blendeten alles aus, richteten ihre Gedanken nur auf die nächsten überlebensnotwendigsten Schritte, und es stellte sich eine Gleichgültigkeit ein, die angstmindernd war.

Es war am Morgen des 5. Mai 1945. Ihr Mann und sie wollten gerade zur Arbeit aufbrechen, die Tochter Grete war schon auf dem Weg ins Büro, da schrillte der Alarm. Sie drängten sich mit einer Menschentraube in den nächsten Bunker. Das war Alltag. Für einen furchtvollen Moment hoffte sie, dass Grete auch rechtzeitig einen Schutzraum aufsuchen konnte, und dann schlugen schon die ersten Bomben in der Nähe ein. Sie fing an, in Vertrauen auf einen guten Gott, ihr Vaterunser zu beten. Nach einer Stunde extremer Anspannung kam die ersehnte Entwarnung. Paul, ihr Mann, war heut nervös, sie nahm wahr, dass er ständig auf die Uhr schaute und an seiner Nagelhaut kaute. Das machte er immer, wenn er eigentlich etwas anderes machen wollte, als er gerade tat. Er stürmte zu der schweren Eisentür und stemmte sie als erster auf. Sie wollte ihn noch zurückhalten, doch da eilte er schon die Treppe hinauf, um die Straße zu inspizieren, in der Hoffnung, noch Vertrautes zu erblicken.

Gänzlich unerwartet detonierte plötzlich wieder eine Bombe und erschütterte den Bunker. Sie erschrak, die Menschen um sie herum erstarrten für einen Moment und zwängten sich dann schließlich durch die Tür ins Freie. Sie nahm sich Zeit, ließ die Menschen an sich vorbeiziehen, Paul würde draußen auf sie warten. Sie fand Paul jedoch nicht zwischen all den Suchenden und Herumlaufenden, in Schuttbergen wühlenden Gestalten. Irritiert trat sie für einen Augenblick auf der Stelle, da hörte sie ihren Namen rufen. Es war nicht die Stimme ihres Mannes. Der Ruf war so zwingend, dass ihre Beine immer schneller in dessen Richtung drängten. Dann sah sie das, was sie nicht wahrhaben wollte, erst nach Minuten drang die Realität zu ihr durch. Ein Mann, den sie nur flüchtig kannte, schob eine rostige Schubkarre und darin lag Paul in seinem Blut, weiß wie ein Laken und brüllend. „Eine Bombe hat Paul das Bein abgerissen, komm schnell zur Kirche, die ist jetzt ein Lazarett, bestimmt ist da noch ein Arzt“, trieb der den Karren schleppende Helfer sie an. Auf dem Weg dorthin verstummten die Schreie und sie brachten einen Leichnam in die Kirche. Sie konnte gerade noch Pauls Uhr in die Hand des beherzten Mannes drücken, dann war er fort, wie Paul, ihr Paul.

Nun sitzt sie hier, in dem Bunker, den sie für sicher hält, mit Menschen, die besetzt sind von ihrem eigenen Leid, und mit einer Tochter, die von Weinkrämpfen geschüttelt wird. Am liebsten wäre sie heute nicht in den Schutzraum gegangen, hätte sich gewünscht, eine Bombe würde auch sie treffen und sie wäre wieder mit Paul vereint. Doch sie hatte noch Grete, die konnte sie nicht allein lassen. – Entwarnung. – Die Menschen ziehen an ihr vorbei, auch Grete. Als Letzte geht sie hinaus, bleibt im Hauseingang stehen. Neben ihr steht ein russischer Soldat. Er ist ihr egal. Sie atmet tief durch, hebt den Kopf und sieht etwas gänzlich Unerwartetes. Zwischen den Trümmern steht ein völlig gesunder, blühender Kastanienbaum. Tränen laufen über ihre Wange. Der Russe schaut sie an. „Frau, warum du traurig?“, fragt er.

„Mein Mann ist tot“, antwortet sie wie selbstverständlich. „Meine Frau, zwei Kinder weg, tot, Krieg Scheiße“, teilt er ihr mit und lächelt sie wehmütig an. Sie stehen schweigend nebeneinander, durch Verlust verbunden. Dann greift er in seinen Tornister und holt ein in Zeitungspapier eingewickeltes Stück Speck hervor. Er hält es ihr hin: „Du Frau nimm!“ Verwirrt und verlegen will sie erst ablehnen, doch dann greift sie nach dem Paket. Jetzt weint sie aus Dankbarkeit und Rührung. Sie tritt wieder auf die Straße und schaut sich nach dem Soldaten um, er winkt ihr zu, sie winkt ihm tränenüberströmt zurück. „Gott schütz dir“, ruft er ihr nach. Auf den Weg in ihre Straße hat sie nur einen Wunsch, ganz intensiv und ehrlich: Dem Soldaten möge es gut gehen, auch ihn soll Gott schützen.

Ihr Haus steht noch. Das ist ein milder Trost für sie. Grete sitzt in der Küche und hat Pellkartoffeln aufgesetzt. Sie geht zu ihr und umarmt schweigend die Tochter. Draußen zwitschern Amseln ihre Lieder auf das Leben.

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