kreuzberger dichtungswerk

Annette John, Bleib dabei. Erzählung

Bleib dabei. Erzählung
Lockdown-Waldlesung 27.04.2020

Kennst du das? Du stehst in deiner Küche und brauchst etwas aus dem Arbeitszimmer, sagen wir, ein Kochrezept aus dem Internet. Auf dem Weg zum Arbeitszimmer stolperst du über deine Schuhe, die du am Abend vorher nicht ordnungsgemäß weggeräumt hast. Also willst du das jetzt nachholen, da fällt dir auf, wie schmutzig die Schuhe sind. Du beschließt, sie zu putzen und wendest dich der Abstellkammer zu, wo die Kiste mit dem Schuhputzzeug steht. Das erste, das dir dort in die Hand fällt, ist eine Sprühflasche mit Raumspray. Du kannst dich nicht mehr erinnern, wann du die gekauft hast, und probierst aus, ob der Duft darinnen sich erhalten hat. Er riecht nach grünem Apfel, ein Geruch, den du liebst. Sofort fällt dir ein Erlebnis aus früheren Jahren ein, nämlich wie die ersten Granny Smiths in den Supermärkten auftauchten und die Oma sich daran einen Zahn ausbiss, obwohl der Apfel geviertelt war. „Oh Maju“, rief die Oma, „dat lo kann eich net eaßen!“ (Maria Josef, dieses kann ich nicht essen!)  Daraus könnte man eine Geschichte machen, also rennst du zum Arbeitszimmer, klappst den Laptop auf, greifst wie gewohnt in deine Haare, wo die Brille sitzen müsste, aber da sitzt sie nicht. Mist! Wo ist das blöde Teil? Nicht auf dem Schreibtisch, nicht neben dem Bett, nicht im Bad, nicht in der Küche. Zum Glück hast du ein Lager mit Ersatzbrillen, und du weißt auch, wo es sich befindet. Leider sind die Ersatzbrillen, weil lange nicht benutzt, völlig verstaubt.  Du nimmst eine in die Küche mit, um sie zu waschen. Wo du schon mal dabei bist, wäschst du auch gerade das schmutzige Geschirr ab. Danach suchst du die Handcreme, die nicht an ihrem Platz liegt, aber stattdessen findest du deine Brille auf dem Bord über dem Spülbecken. Mit zwei Brillen ausgestattet, eine auf dem Kopf, eine auf den Augen, machst du dich auf den Weg zum Arbeitszimmer, wobei dir wieder die ungeputzten Schuhe im Weg liegen. Du verschiebst das Putzen auf später, weil du ja zum Computer wolltest. Warum eigentlich? Ja warum? Mails checken? Irgendwie scheint dir das nicht die ursprüngliche Idee gewesen zu sein, andererseits, was soll`s. Du  rufst die Mails auf, beantwortest einige, was ziemlich lange dauert. Wie hat man das eigentlich früher gemacht? Telefoniert? Vermutlich ja, aber Zeit hat einem das auch nicht gespart. Höchstens, wenn der Angerufene nicht da war. Du erinnerst dich, wie die ersten Anrufbeantworter aufkamen. Das war beklemmend gewesen. Weil man wusste, dass das, was man sagte, genauso auf dem Band landete, mit allen ahs, und ähs darauf konserviert wurde, und sich der Kontrolle oder Nachbesserung entzog. Also musste man genau überlegen, was man wie sagen wollte, und wenn einem etwas eingefallen war, hatte sich das Band am anderen Ende der Leitung schon ausgeschaltet. Eine miese Erfindung, diese Anrufbeantworter, hattest du  damals gedacht und dieses Urteil mit fast allen deinen Bekannten geteilt. Miese Erfindung, miese Erfindung, diese Worte drehen sich unablässig in deinem Kopf und wie ein Mückenschwarm gesellen sich alle anderen miesen Erfindungen dazu, die dann später erfunden wurden und von denen damals niemand gedacht hatte, dass sie je existieren würden. Kann man etwas denken, das noch nicht existiert und das weder als Bild noch als Vorstellung vorhanden ist? Nee, wahrscheinlich nicht, oder doch, wenn man Sciencefiction schreibt. Schreiben. Du wolltest etwas schreiben. Nicht Mails. Du wolltest dir eine Notiz für eine Geschichte machen. Du öffnest den Ordner für Notizen, notierst die Sache mit der Oma, dem Apfel und dem ausgebissenen Zahn, die dir plötzlich sehr dünn vorkommt. Du bist unzufrieden mit dir. Du läufst durch die Wohnung und beschwörst selbstmitleidig und zynisch den Verlust deiner Kreativität. „Bye bye  geliebte Schreiberei“, singst du, „vorüber und vergangen und für immer vorbei!“ Mist. Jetzt erst merkst du, dass du schon den ganzen Vormittag diesen alten Song vor dich hinsingst, nicht laut, aber in Gedanken. Er gibt dir den Rhythmus vor, er besetzt dein halbes Gehirn. American Pie. Bye bye Miss American Pie? Wo hast du den gehört, wo kommt er so plötzlich her, und warum geht er nicht weg? Kochen? Backen? Apfelkuchen? „Bleib dabei!“ Und wo kommt das plötzlich her? „Bleib dabei!“ Henrys Mantra. Henry, dein Guru, während dreier langer Jahre. Mistkerl, der Henry, aber doch hast du viel von ihm gelernt. Naja, wollen wir nicht übertreiben, einiges hast du von ihm gelernt. „Bleib dabei!“ Bleibe bei dem, was du tust, oder zu tun dir vorgenommen hast. Die Schuhe! Da liegen sie mit all ihrem Schmutz. Okay. Schuhe putzen. Danach Rezept aus dem Internet raussuchen. Eins nach dem anderen. Du bringst Schuhe und Putzutensilien auf den Balkon hinaus. Du befreist die Schuhe vom groben Schmutz. Du trägst die Schuhcreme auf. Bleib dabei. Du tust nichts anderes. Bloß Schuhe putzen. Müll auf der Straße? Vergiss ihn! This will be the day that I die? Vergiss es. Ein guter Tag zum Sterben? Vergiss es, vergiss es! Schuhcreme aufgetragen. Zurück ins Zimmer. Rezept suchen. Für den Abend hast du dir Gäste eingeladen. Du wirst einen großen Salat machen und eine Quiche. Beides kannst du im Schlaf. Aber zum Nachtisch soll es Mousse au Chocolat geben. Dafür brauchst du das Rezept und die Zutaten. Du suchst ein wenig herum, findest ein brauchbares, druckst es dir aus. Bleib dabei. Was sonst noch, was brauchst du noch? Zurück in die Küche, Kühlschrank inspizieren. Einkaufsliste schreiben. Danach Schminken. Du willst zum Einkaufen, das heißt raus, das erfordert Schminken, denn ungeschminkt verlässt du nicht das Haus, seit fünfzig Jahren hältst du das so, und heute ist keine Ausnahme. Wie immer schminkst du dich im Spiegel am Fenster, weil es dort am hellsten ist. Draußen in der Fichte ist wieder das Taubenpaar zugange, rucke die guh. Es betrachtet abschätzend seinen alten Nistplatz. Nicht zu fassen. Wollen die etwa wieder dort nisten, obwohl ihnen die Krähen zweimal die Jungen gefressen haben? Zweimal haben sie gebrütet letztes Jahr, zweimal Junge aufgezogen, kleine, flaumige Kerlchen mit Stummelflügeln. Und zweimal sind die Krähen gekommen, haben die Alten vertrieben, das Nest zerstört und die Küken gefressen. Und jetzt überlegen die beiden offensichtlich, wieder dort zu nisten. Wie blöd kann man als Taube eigentlich sein? Rucke die guh, Blut ist im Schuh. Schuhu, schuhu, es fallen dem König die Augen zu. Nix da König, Schuhe sind angesagt. Die müssen poliert werden. Die Schuhcreme war zu lange drauf. Richtig glänzen werden sie nun nicht mehr. Egal. Hauptsache sie sind sauber. Du ziehst sie an, schlüpfst in deinen Mantel, schnappst Handtasche und Schüssel und läufst los zum Einkaufen. Bleib dabei. Nicht zu Aldi, sondern zu Edeka, weil es dort die bessere Schokolade gibt. Anderer Weg, weiterer Weg, bleib dabei. Henry, du Mistkerl. Über drei Jahre lang warst du unser Guru, mein Guru. Groß, übergewichtig, kahl. Kein schöner Mann, aber ein ganzer Mann, stark, zuverlässig, voll der ruhigen Autorität. Geträumt habe ich von dir, jünger war ich damals, viel jünger als heute. Mein sexuelles Verlangen war noch aktiv, schamrot bin ich aufgewacht! Niemals, niemals, nicht in hunderttausend Jahren, hätte ich mir anmerken lassen, was ich von dir träumte. Stattdessen habe ich dich geneckt, deine Autorität auf ironisch humoristische Weise in Zweifel gezogen. Du bist in genau diesem Ton auf mich eingegangen. Kein bisschen böse, kein bisschen genervt. Wir verstanden uns gut, glaubte ich. Glaubte ich. Erst lange nach dem Ende des Lehrgangs habe ich erfahren, dass du mit allen Teilnehmerinnen des Kurses geschlafen hast. Nur nicht mit mir. Hashtag me not. Warum nicht? Was war falsch an mir? Hattest du Angst? War ich zu frech, zu ungläubig? Geschrieben hab ich dir, um Erklärung habe ich gebeten. Geantwortet hast du nie. Mistkerl-bleib-dabei-Arschloch. Oh, warte nur, eines Tages werde ich eine Geschichte über dich schreiben, die Ohren werden dir wegfliegen, wegfliegen werden sie dir!

Wo bin ich? Wo wollte ich hin? Edeka. Vorbei gelaufen. Zurück also. Du betrittst den Laden und stellst fest, dass du den Ausdruck mit dem Rezept und deinen selbst geschriebenen Einkaufszettel vergessen hast. Na und? Dann kaufst du eben nach Gefühl. Und wenn es mit der Mousse nicht klappt, gibt es Schoko-Pudding von Doktor Oetker, aufgemotzt mit frisch geschlagener Sahne und Bananenstückchen. Ist auch was Feines. Die alt hergebrachten Sachen sind sowieso die besten. Bleib dabei.

Ein Kommentar

  1. Ach, das fließt so wunderbar, kann leider nur kurz mit meiner Gleitsichtbrilke schreiben, weil, meine Lesebrille liegt bei den Schuhen, die ich putzen wollte, als… Ein toller Sog. Danke für den Schluß!!!

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