Michail Iwanow stürmt aus dem ausrangierten Bus der Staatlichen, Sibirischen Verkehrsgesellschaft und rennt in die kleine Hütte aus Lehmziegeln. Einstein, der ältliche Ziegenbock, läuft Michail hinterher. „Mammi, Mammi, es ist vollbracht!“, brüllt der Wissenschaftler, während er sich im Haus auf einen abgewetzten, braunen Sessel wirft. Seine Mutter streicht ihm über die zerzausten Haare: „Häschen, beruhige dich und trink deinen Kakao.“ Iwanow jubelt unbeirrt weiter: „Ich hab es geschafft, Mammi, nach 4 Jahren habe ich endlich eine Bombe hergestellt, die funktionieren wird. Sie ist fertig, sie ist wirklich fertig!“. Seine Augen glänzen fiebrig, er ignoriert die angeschlagene Tontasse, die die Mutter ihm hinstellt. „Jetzt wirst du unsterblich, du wirst der Retter der Welt werden, ein Friedensfürst“, triumphiert die Frau und ihre große Brust wippt mit jeder ihrer hektischen Bewegungen auf und ab. Während Iwanow jetzt so wild von ihr umarmt wird, dass ihm die acht Dioptrien starke Nickelbrülle herunterfällt, steht der Bock Einstein in der offenen Tür und meckert, um seinerseits zu gratulieren.
Professor Dr. Dr. Dr. Iwanow ist einer der klügsten Köpfe in Russland. Er studierte auf der Universität von Nowosibirsk Raumfahrttechnik, Chemie, Physik, Kosmologie und erwarb außerdem in Berlin einen Doktortitel für Pathologie. Er lebt mit seiner Mutter in einer schon recht verfallenen Hütte in einem 50 Einwohner großen Dorf in Sibirien. Sein Arbeitszimmer ist ein alter Bus. Ohne seine Brille ist Iwanow blind wie ein Maulwurf, er ist bloß 1,60 groß. Die Dorfbewohner erkennen ihn schon von Weitem an seiner hellroten Wollmütze mit den drei Bommeln, die ihn seine Mutter, als er noch ein Kind war, strickte. Sobald er ins Freie geht, besteht sie noch heute darauf, dass er sie aufsetzt. Ihr muss er beweisen, dass er etwas Besonderes ist, denn er weiß, die Jungfrau Maria offenbarte ihr während seiner 30-stündigen Geburt, er würde einmal als neuer Messias die Welt evolutionieren.
Jetzt ist es endlich soweit. Er hat eine Bombe hergestellt und er hat mit ihr einen Plan, der die Erde verändern wird. Er, Michail Iwanow, hat die Erwartungen seiner Mutter erfüllt und die ganze Welt wird ihn verehren.
„Bald bin ich der mächtigste Mann auf dieser Erde. Alle meine Träume werden wahr werden. Die Regierungen werden sich nach meinem Reglement richten“, so spinnt sich Ivanow in seine Größenphantasien ein und fühlt sich mindestens 2,20 groß.“ Niemand wird mehr über mich lachen, weder über meine geringe Größe, noch über meine Unbeholfenheit. Man wird mich lieben, der Nobelpreis ist mir sicher.“ Nur ganz langsam macht seine Aufgewühltheit seinem Pragmatismus Platz.
„Mutti, in drei Tagen kommt der amerikanische Präsident nach Berlin, dann werde ich ihm die Papiere übergeben“, sagt er stolz. Bitte pack mir saubere Unterwäsche in den blauen Koffer und einen Anzug zum Wechseln.“ Er gibt seiner Mutter noch weitere Anweisungen, während diese ihre Tränen nicht unterdrücken kann: „Ich habe solche Angst um dich, mein Hase, bitte sei vorsichtig“, presst sie aus sich heraus. Ohne ihr zu antworten geht Ivanow wieder in seinen Bus und vergleicht dort die Sinuskurven auf den Monitoren seiner vier Hochleistungscomputer.
Eine Stunde später bringt Frau Iwanow ihrem Sohn sein Lieblingsessen, Borschtsch. „Matruschka, die Bombe musst du behalten und für mich verstecken. Es ist möglich, dass der Geheimdienst mich verhört“, fordert er sie auf. Die Mutter denkt sofort an Folter und Zuchthausverliese, sie jammert und schluchzt. Er drückt ihr eine daumengroße Bleikapsel in die Hand. „Mammi, nur dir vertraue ich die Rettung der Welt an.“ Er küsst sie sanft auf den Mund.
Zwei Tage später bricht Michail Iwanow nach Berlin auf. „Trag deine Einlagen regelmäßig und vergiss nicht, täglich deine Unterwäsche zu wechseln“, ruft Jelena Iwanowa ihm nach.
Michail findet sich gut in Berlin zurecht, schließlich hatte er dort einmal studiert. Das billige Hotelzimmer, das er sich nimmt, riecht nach Mottenkugeln. Schon am ersten Abend vermisst er die Mutter. Wenn sie hier wäre, könnte sie ihm alte sibirische Märchen erzählen und ihm helfen, seine Brille zu suchen, die er jeden Tag mindestens zehnmal verlegt. Er packt seine Pläne aus und sieht sich diese nochmals konzentriert an. Gut. Dann sucht er einen Kostümverleiher auf, der sich in der Friedrichstraße befindet. Er borgt sich eine Maske. Mit ihrer Hilfe kann er sich in einen Neunzigjährigen mit Glatze verwandeln. Er steckt sie in seine verschlissene Aktentasche. Sein Herz macht Luftsprünge. Morgen wird er den Brief und die Pläne dem amerikanischen Präsidenten während seiner Visite in der Bundeshauptstadt übergeben. Michail ist sich sicher, dass der Präsident zwischen dem Brandenburger Tor und Unter den Linden nicht seine Limousine benutzen wird, sondern zu Fuß die erregte Menge abschreitet. Pjotr, sein letzter alter Studienfreund, der jetzt beim CIA arbeitet, hat ihm dies widerwillig mitgeteilt.
Am nächsten Morgen macht sich Iwanow einen Kaffee. Seine Aufregung ist mit Euphorie durchmischt Er streift sich seine Maske über das Gesicht. Sie spannt unangenehm auf der Haut, am Kinn rollt sie sich verräterisch zusammen. Er bemerkt es nicht.
Der Potsdamer Platz ist voll von Menschen, die laut ihre Sympathie für Amerika und dessen Führer kundtun wollen. Der Forscher drängt sich durch die Menge nach vorn in die erste Reihe. In der Hand hält er einen dicken DIN A3 Umschlag. Dann vernimmt er wellenartige Jubelrufe. Seine Hände zittern. Er macht zwei Schritte nach vorn. Der Präsident schüttelt hingestreckte Hände und schreitet dabei zügig weiter. Hochrufe schwellen an. Jetzt steht der Präsident vor ihm. Iwanow streckt ihm das Kuvert hin. Blitzschnell drängt sich ein Bodyguard zu ihm, erkennt die Maske und reißt sie ihm vom Kopf. Ein zweiter Wächter eilt hinzu und nimmt dem Wissenschaftler den Umschlag aus der Hand. Ehe man ihn festhalten kann, duckt er sich und kämpft sich durch die Masse. Er schafft es, sich in eines der wartenden Velotaxis zu setzen, die auf dem Bürgersteig parken, und zu flüchten.
Michail Iwanow fliegt zurück nach Novosibirsk. Im UN-Sicherheitsrat ist Panik ausgebrochen. Während der vereitelten Briefübergabe hat man Fotos von dem unmaskierten Michail geschossen und eine weltweite Fahndung beginnt. Die hellsten Wissenschaftler der Welt sind abkommandiert worden, um die Pläne von Michails Bombe zu studieren, und zu entscheiden, ob er seine Drohung wirklich wahrmachen kann.
14 Stunden nach der Übergabe der Pläne, kommt Michail wieder in Sibirien an. Er läuft weitausholend zu dem alten Lehmziegelhaus. Jelena Ivanowa erscheint völlig desolat gekleidet, vor Aufregung am ganzen Leibe schlotternd, an der Tür. „Schatzi, Schatzi, schon zum vierten Male sind Sondernachrichten im Fernsehen, komm schnell!“ Der Forscher stürzt ins Haus. Ein fettleibiger Sprecher teilt mit, dass der UN-Sicherheitsrat höchste Alarmstufe verhängt hat, da ihm gefährliche Pläne zugespielt wurden. Es handele sich um eine Bombe, die in wenigen Minuten die gesamte Erdatmosphäre und damit alles Leben zerstören könne. Der Erfinder dieses Teufelswerks habe in einem Brief verlautbaren lassen, dass er die Bombe zünde, wenn nicht sofort sämtliche Kriege auf der Welt eingestellt würden. Alle Regierungen hätten aus Sicherheitsgründen deshalb sofort beschlossen, die Kampfhandlungen auf dem ganzen Globus vorerst zu beenden. Der Forscher fällt seiner Mutter um den Hals, er ist glücklich.
Während sich die besten Wissenschaftler durch Michails Aufzeichnungen arbeiten, feiern er und seine Mutter mit Wodka und Walzermusik. Plötzlich macht Einstein einen Lärm, der beide aufschreckt und sofort aus der Tür schauen lässt. Drei schwarze Volvos stehen vor dem Haus. Sechs Männer, alle in grauen Trenchcoats, steigen finster blickend aus.
„Michail Iwanow?“, fragt ihn einer von ihnen ernst und bedrohlich. Michail nickt. Der Mann zeigt ihm ein Foto, worauf Iwanow mit entrissener Maske abgebildet ist. Der Mann schubst ihn in eines der Autos. Der Forscher wehrt sich nicht. Verzweifelt brüllt die Mutter seinen Namen.
Er wird durch die Verliese des Geheimdienstes geführt, man stößt ihn in eine verrottete Zelle. Ivanow lässt alles mit sich geschehen. „Wenn sie mich foltern und töten, gehe ich als zweiter Christus in die Weltgeschichte ein“, macht er sich Mut. Nach acht Stunden, die er zusammengekauert auf einer harten Pritsche ausharrt, holt man ihn zum Verhör. Er wird in einen engen Raum geworfen, der nur mit einem Stuhl und einer Krankenhausliege ausgestattet ist. Barsch fordert man ihn auf, sich hinzulegen. Dann hat er auch schon eine Spritze im Arm. Ihm wird schlecht, alles dreht sich, Schwärze umfängt ihn. Als sein Bewusstsein langsam, wie aus einem dunklen See, auftaucht, befindet er sich wieder in seinem Verlies. Kurze Zeit später zerrt ihn ein stämmiger Mann durch katakombenähnliche Gänge und wirft ihn schließlich durch ein Tor ins Freie. Der Forscher begreift, dass, selbst wenn man ihm eine Wahrheitsdroge injiziert hat, niemand etwas über den Verbleib der gefährlichen Apparatur erfahren konnte. Augenblicklich beschleicht ihn Angst um die Mutter. Wo wird sie die Bombe versteckt haben, hoffentlich hat man ihr nichts angetan. Mit einem klapprigen Bus fährt er in sein Dorf zurück. Mutter und Sohn vergießen Freudentränen. Michail blickt sich um und nimmt erschrocken wahr, dass das ganze Grundstück vor seinem Haus umgegraben wurde. Auch innen ist alles zerwühlt, selbst Matratzen und Kissen sind aufgeschlitzt worden. Das Radio läuft. Plötzlich bleiben beide stehen und wenden ihre Köpfe dem Apparat zu. Der Verfasser des Drohbriefes und vermeintliche Erfinder einer alles zerstörenden Bombe sei gefasst und wieder laufen gelassen worden, hieß es in den Nachrichten. Er sei ein bekannter Forscher, jedoch auch geistesgestörter Idealist. Die bedeutenden Gehirne der Welt konnten in den komplizierten Plänen, die er den Regierungen zukommen ließ, keine Realisierbarkeit einer solchen Bombe feststellen. Die Kampfhandlungen in Syrien und im Kongo würden wieder aufgenommen werden. Mutter und Sohn blicken sich erschüttert an. „Sie sind zu dumm, um deine Pläne zu lesen, das haben wir nicht bedacht“, sagt die Frau mit belegter Stimme. „Die Welt ist generell zu dumm“, antwortet der Forscher. „Mutter, wo ist die Bombe“, fragt er nun, bereit, den letzten Schritt einzuleiten. Die Frau lacht. „Ich habe sie Einstein zu fressen gegeben, als ich die Männer vom Geheimdienst sah.“ Michail rast in Einsteins Stall und durchsucht hektisch das Stroh. Ihm wird übel, er kann nichts finden. Er hebt jeden Strohhalm auf. Nichts. Als Michail verzweifelt zum dritten mal alles absucht, meckert Einstein plötzlich laut und durchdringend, dann scheidet er die Bleikapsel aus.
Ivanow schleppt sich ins Haus. „Hase, wirst du sie zünden?“, fragt die Mutter, beide Hände fest um ihren Bauch geklammert. Er setzt sich auf einen Holzstuhl in der karg eingerichteten Küche. Die Mutter sitzt neben ihm. Beide schweigen.
Er sieht jetzt Furcht in ihren Augen. Sieht Schneeflocken in ruhiger Harmonie vor dem Fenster zu Boden schweben, hört eine Eule nichtsahnend ihre Rufe ausstoßen. Ein funkelnder Vollmond beobachtet ihn durch die Küchenöffnung.
Die Augen des Forschers werden wässrig, warme, salzige Tränen laufen in seinen offenen Mund. Dann steht Michail mit einem Ruck auf und starrt an die Wand.
Nein, Mutter, nein! „Niemand kann den Teufel vernichten, ohne auch Gottes Schöpfung zu zerstören und selbst zum Antichrist zu werden. Ich entschärfe sie.“ Sagt er ruhig, aber bestimmt zu der aufatmenden Frau.
Ein Jahr später schloss sich Michail der russischen Friedensbewegung an, nahm sich eine eigene Wohnung und hatte ein Verhältnis mit der kleinwüchsigen, doch sehr mütterlichen Olga Schodowika.