kreuzberger dichtungswerk

Sabine Wilde, Das geteilte Paradies. Erzählung

Viele Jahre seit dem Atomkrieg 2040 waren vergangen. Die Natur hatte sich noch nicht vollständig erholt, in den meisten Ländern herrschten Dürre und Wassermangel. Die Menschen sammelten Regenwasser, das Abwasser wurde zur Benutzung der Klospülung benutzt, die Benutzung von Waschmaschinen war verboten. Ebenso durfte nur einmal in der Woche geduscht werden. Die Familie Holländer lebte in einem ebenerdigen Betonhaus, das zu einer Siedlung gehörte, in der alle Häuser gleich aussahen. Wäre die Siedlung von Zäunen und Stacheldraht umgeben gewesen, hätte man sie für ein großes Gefängnisareal halten können. Bäume, die grüne Blätter trugen, gab es wenige, dafür jede Menge Stämme mit trockenem Geäst.

Die Familie lebte auf 89 qm mit 3 Zimmern, einem Bad und einer Küche. Der Sohn, Tommy, spielte für sein Leben gern mit den anderen Kindern aus der Gegend Fußball und lernte über Monster, das Lernprogramm. Herr und Frau Holländer gingen 3 Stunden am Tag ihrer Arbeit nach und machten es sich danach mit dem Lifeview gemütlich. Der Lifeview war ein Apparat, der aussah wie eine dickrandige Brille, er wurde aufgesetzt und eingeschaltet, eine Elektrode am Kopf des Benutzers sorgte für eine gute Neuroverbindung. Mit dieser Brille fand man sich in seiner Fantasiewelt wieder, die völlig real war und deren Besitzer manchmal für viele Stunden förmlich verschlang.

Die Holländers lebten ruhig und zufrieden in ihrer kleinen Welt. Ansprüche auf ein anderes Leben hatten sie nicht, denn seit Generationen kannte man nichts anderes. Die Tristheit in ihrer Umgebung nahmen sie gar nicht mehr wahr. Sie hatten Freunde und Bekannte, zu denen man sich gegenseitig einlud, um Solaris zu spielen oder gemeinsam zu essen.

Eines Tages, es war im Jahre 3008, klingelte es an der Tür und ein Fremder stand davor, er hatte ein feistes Gesicht und trug einen roten Anorak. Vorsichtig öffnete Frau Holländer die schwere Tür. „Sie können mich abscannen“, sprach der Mann zu ihr, „ich bin vom SHO, vom Social Harmony Office, und habe ihnen eine freudige Nachricht mitzuteilen.“ Frau Holländer holte den kleinen Handscanner und fuhr damit über den Arm des Dicken. Das Display zeigte an, indem es grün leuchtete, dass dieser Mensch okay war. Sie ließ ihn eintreten und bot ihm einen Tee an.

„Sie sind auserwählt worden, eine Zeitlang auf dem Planeten Paradies 1 zu leben. Sie werden alles, was sie brauchen, dort vorfinden, doch das Projekt ist geheim, weil es sonst Konflikte mit der hiesigen Bevölkerung gäbe, können sie sich daran halten?“ Sie nickte und Herr Holländer gesellte sich neugierig zu den beiden. Auch er nickte.

„Paradies 1 ist ein bis jetzt gelungenes Experiment. Menschen mit sehr geringem Gewaltpotenzial, hoher Empathie, Integrität und sehr guter sozialer Kompetenz werden dafür ausgesucht. Die Wahl fiel auf sie. Paradies 1 ist ein Ableger der Erde und befindet sich 4 Lichtjahre von uns entfernt in der Nähe der Kassiopeia. Alles was man benötigt findet man dort umsonst, der Planet ist ein blühender Garten, alle Bewohner sind freundlich und friedfertig, Arbeit ist Hobby, sie werden dort glücklich sein“, erzählte er weiter. Doch Familie Holländer wollte nicht außergalaktisch wohnen, sondern ihr altbewährtes Leben weiterführen. Jenes teilten sie dem Mann mit. Dessen Gesicht verzog sich und wurde ernst. „Sie können sich nicht verweigern, dies ist ein Befehl der Weltenunion, ihnen würde eine schwere Strafe drohen und der Verlust ihres gesamten Eigentums“, lautete die Entgegnung des Mannes. Herr Holländer sah seine Frau zweifelnd an, dann nickte er zustimmend, danach machte seine Frau es ihm nach. Der Dickliche kam nun zu den Formalitäten. Er teilte dem Ehepaar mit, dass er allen einen Chip in die Hand transplantieren würde, was sie berechtigte mit dem Rakete uz180 auf dem Planeten zu landen und dort zu leben. Der Zug zum Weltraumbahnhof, Beykanur, fahre am nächsten Tag um 10 Uhr morgens vom Hauptbahnhof ab, sie könnten ruhig Gepäck mitnehmen. Als alle gechipt waren, verließ der Mann sie mit einem festen Händedruck und den Worten: „Sie werden es nicht bereuen.“

Alle drei blieben verblüfft, überrascht und überrumpelt am Tisch sitzen, dann fügten sie sich und packten die Koffer. Schlafen konnte keiner in jener Nacht. Als es 9 Uhr war, fuhren sie mit ihrem Spacepack zum Bahnhof. Ihr Spacepack, einen Flugrucksack, verstauten sie in einer extra dafür vorgesehenen Tasche. Die Bahn kam pünktlich, Tommy hatte schon jetzt Heimweh. Die Fahrt war angenehm und schnell. Der Weltraumbahnhof ähnelte einem wenig frequentierten Flughafen. Eine Frau in grüner Uniform untersuchte sie, scannte sie und zeigte ihnen den Abflugsteig. Sie fanden schnell ihr Flugobjekt und stiegen ein. Innen ähnelte es einem Luxusbus. Breite Sitze waren montiert an denen man Beinkissen hochklappen konnte, das ganze Gefährt war mit blassroter Seide ausgeschlagen und zuvorkommende Servicekräfte zeigten ihnen ihren Platz, es herrschte während des ganzen Fluges Anschnallpflicht. Auf die Minute genau um zehn Uhr wurde die Rakete gezündet. Alle Passagiere wurden in ihre Sitze gedrückt, den Holländers war flau im Magen. Nach einer Weile flogen sie ruhig ins All. Der Schwerkraftschirm griff, so dass die Atmosphäre beinahe wie auf der Erde war. Meteoriten flitzten vorbei und bald waren nur noch helle Streifen durch das Raketenbullauge zu sehen. Sie flogen bereits zwei Tage, da sprach der Pilot, dass sie durch ein Wurmloch fliegen und an alle Passagiere Tabletten ausgeteilt würden, damit niemand in Panik gerate, da es nun sehr holprig wäre und die Zeit jeden wachen Mitreisenden die Vergangenheit vorgaukelte, dieser Fakt sei schon sehr unheimlich.

Die Familie nahm die Tabletten ein und fiel sofort in Schlummer. Wieviel Zeit bis zu ihrem Aufwachen verstrichen war, wussten sie nicht. Die Maschine flog jetzt ruhig dahin und keiner der Reisenden zeigte Symptome von Angst. Einige Stunden später erscholl wieder die Stimme des Kapitäns. Sie würden in die Umlaufbahn von Paradies 1 eintreten und in wenigen Minuten landen. Alle waren erleichtert.

Die Raketenbasis des Planeten sah aus wie ein bunter, gepflegter Garten, wenn man von den Raketen absah, die auf ihren Abflug warteten. Die drei liefen zu einem Schalter, an dem „Neuankömmlinge“ stand. Wieder wurden sie gecannt, dann gab man ihnen eine Adresse, die sie mit ihrem Spacepack bequem erreichen konnten.

Sie waren begeistert, überall sattes Grün, Rot und Gelb, dazu lustige Häuser, wie sie es auf der Erde nie gab, dreieckig, schief mit Tudortürmchen bestückt oder auch ballförmig mit großen Fenstern. Ihr Haus war blauweißrosa gestrichen, es war rund, hatte Mosaikfenster und einen Zwiebelturm als Dach. Sie gingen hinein. Es empfing sie ein Saal, eingerichtet mit Jugendstilmöbeln und drei Betten aus schön geformten Metall und auf Kufen, das Bettzeug aus lila Satin. Bad und Toilette waren himmlisch groß, eine Dampfdusche stand ihnen zur Verfügung.

Die drei juchzten vor Freude. Ein Garten mit exotisch aussehenden Pflanzen und Blumen vervollkommnete ihren neuen Lebensbereich. Tommy fand zu seinem Glück noch drei Apparaturen für Phantasiereisen auf dem Eichentisch. Alle waren sie angestrengt von der intergalaktischen Reise, zogen sich aus und legten sich in die Betten. Bald stellte sich heraus, dass man nur auf einen Knopf drücken musste und die Betten bewegten sich wiegenartig, eine Massagehand, wie es sie schon auf der Erde gab, fanden sie auf dem Nachtisch vor. So konnten sie automatisch massiert werden, eine gute Erfindung. Was den Dreien allerdings fehlte, waren die Fernsehwand und die Einohrtelefone, doch alles andere war so gemütlich und komfortabel, das sie schnell darüber hinweg kamen.

Am nächsten Morgen erkundeten sie ihre Umgebung. Sie stellten fest, die Wege waren alle aus buntem Glas, um sie herum wuchs eine Flora, wie sie in solcher Schönheit auf der Erde nicht existierte. Die Sonne war ein hellblauer Stern umrahmt von einem Regenbogen. Sie schauten sich die anderen Häuser an, in ihnen war offenkundig Leben, einige saßen vor dem Haus, aßen und tranken etwas. Man stellte sich vor und wurde sofort zu einem selbstgebrannten Obstschnaps eingeladen. Hier war scheinbar jeder ausgeglichen und ohne die Befürchtungen, die man auf der Erde mit sich herumschleppte. Jedes Haus war bunt gestrichen und sah völlig verschieden vom anderen aus. Sie freuten sich, war ihnen doch der große Wurf gelungen. Abends kamen die unmittelbaren Nachbarn zu Besuch mit einer Flasche Obstler. Sie zeigten ihnen das große Wasser. Dies war ein sehr breiter See, dessen Wasser lindgrün schimmerte. Bald sprangen alle in den See, der angenehm warm war, sie bespritzten sich und tobten herum wie kleine Kinder. Plötzlich sahen sie am Horizont große Vögel auf sie zukommen, diese hatten Flügel mit enormer Spannweite. Als sie näher kamen sahen sie, dass bequeme Sitze und Zaumzeug auf ihnen befestigt waren. Das sind die Sulkas, klärten die Nachbarn sie auf. Sie bringen euch überall hin, ihr braucht sie nur zu lenken, natürlich auch über den großen See.

„Das probieren wir morgen gleich aus,“ konterte Mutter Holländer erfreut.

„Haben sie sich schon ein Hobby ausgesucht“, fragte der Nachbar.

Holländers verneinten und wurden aufgeklärt. Es gab auf dem Planeten eine Glasbläserei, eine Töpferei, Webereien, Spinnereien, eine Schneiderei und Frisöre. Jeder konnte sich aussuchen, wo er arbeiten wollte, und natürlich auch jederzeit das Gewerbe wechseln. Er entschied sich für die Weberei und sie für das Töpfern. In der Schneiderei gab es bunte Tuniken, die die meisten hier trugen. Geld oder andere Tauschmittel gab es nicht, man nahm, was Paradies 1 hergab und immer wieder neu ohne äußere Hilfe produzierte. Die Pflanzen waren oben rund wie Köpfe, manche gelb, andere rot oder blau, was daran wuchs, erinnerte an das Obst und Gemüse auf der Erde. Es wurde ihnen mitgeteilt, dass alles hier essbar sei, gesund und nahrhaft. Aus den Früchten könne man leckeren Saft und Schnaps herstellen. Getreide gab es auch, es wurde von Robotern gemäht und gedroschen und eignete sich hervorragend zur Herstellung von einer Art Fladenbrot mit süßlichem Geschmack. Der Kaffeeersatz hieß Guarana und bestand aus den Blättern der Guaranapflanze. Man musste sie nur abreißen und mit warmen Wasser aufgießen.

Tommy lief in der blauen Dämmerung alleine weiter, er war neugierig und aufgeregt, es gab so viel zu erforschen. Dann sah er Tiere. Manche sahen aus wie Schafe mit einem Katzengesicht, andere wie grüne Schweinchen mit langem Rüssel. Doch am prächtigsten waren die Sulkavögel, er konnte den Blick nicht von ihnen lassen. Er hörte hier und da andere Bewohner nach ihnen pfeifen, die Sulkas kamen, man nahm auf ihnen Platz und flog weg. Tommy konnte es nicht mehr aushalten, er pfiff auch. Ein gutmütiger Vogel kam und er stieg auf. Der Flug war herrlich, doch als er nicht mehr wusste, wo er war, bekam er Panik, aber der Vogel brachte ihn sicher an den See zurück.

Am nächsten Tag gingen Vater und Mutter zur Weberei und zur Töpferei, während Tommy mit den Nachbarskindern spielte. Bald kamen sie auf die Idee, mit den Vögeln auf die andere Seite des Sees zu fliegen. Dort blühte alles genauso üppig wie auf ihrer Seite des Gewässers. Die Kinder zeigten ihm eine Art Hundertwasserhaus, in dem sich eine Bibliothek befand. Sie erstreckte sich über 3 Etagen, und jedes gewünschte Buch war durch einen Computerklick sofort bei ihnen. Er wählte Mark Twain aus, Der Prinz und der Bettelknabe. Als sie zurück flogen, winkten die Bewohner ihnen zu. Als seine Eltern gut gelaunt wiederkamen, aß man am Strand herrlich schmeckendes Gemüse und reifes, süßes Obst. Als abends dunkelblauer Samt den Himmel bedeckte und am Horizont ein Regenbogen glitzerte, gingen alle ins Haus. Vater und Mutter setzten die überdimensionalen Brillen auf und verschwanden in ihren Träumen. Tommy las.

Am nächsten Morgen herrschte Unruhe auf Paradies 1. Ein Schwarm Sulkas mit Bewohnern des anderen Seeufers war angekommen und diese erzählten von einer Seuche, die alle erschreckte. Die Menschen liefen zuerst knallrot an, bekamen hohes Fieber und verstarben dann. Die Inkubationszeit betrug nur knapp 1 Stunde. Ein Gegenmittel gab es nicht.

Es kamen immer mehr Bewohner des anderen Ufers zu ihnen. Überall herrschte Angst vor Ansteckung. Auch Holländers Paradies wurde nun zu einem Ort der Angst. Aber niemand erkrankte. Es dauerte nicht lange und der noch gesunde Teil des Planeten war überfüllt. Die Fremden schliefen in aufblasbaren Zelten und nahmen sich alles Essbare, was sie brauchen konnten. Die Einheimischen zeigten zum ersten Male Furcht. So schnell, wie man erntete, konnten Bäume und Sträucher kein neues Gemüse und Früchte herstellen. Bald würden sie hungern müssen. Doch wie vertrieb man die Fremdlinge, Gewalt kam nicht in Frage. Zurückschicken in den sicheren Tod war auch keine Option. Es wurde ruhig auf Paradies 1 und die Freude wich einer trüben Hilflosigkeit. Jeder neuangekommene Sulka wurde mit Sorge betrachtet, aber aufkommende Aggressionen wurden zugunsten von Mitleid weggedrückt. Wissenschaftler arbeiteten emsig an der Erforschung eines Heilmittels. Die Nahrung wurde immer knapper.

Endlich wurde nach Monaten der Trübheit ein Impfstoff gefunden. Die Menschen vom anderen Teil des Planeten flogen nach Hause zurück. Nur einer von ihnen überquerte das Land, das sie aufgenommen hatte, und fand ein Lager, ähnlich einem Gefängnis, bestehend aus vielen Betonbauten und einem elektrischen Zaun. Sollten sie, die Fremden, hier eingesperrt werden? Er wunderte sich.

Die Montage des Beitragsbildes benutzt das Gemälde von Friedensreich Hundertwasser Grass for those who cry (1975)

2 Kommentare

  1. Eine gut komponierte fantastische Geschichte, bei der urplötzlich aus dem scheinbaren Idyll mit all seinen sehr schönen Bildern das Unheil entspringt. Bei den für mich aktuellen Bezügen zu Pandemie und Fluechtlingsproblematik bleibt mir leider der Schluß unverständlich. Wartet die Geschichte auf eine Fortsetzung?

  2. Der Fremde wunderte sich, und ich, die Leserin, wundere mich auch. Was hatte es auf sich mit diesem Gefängnis-Areal? War es wirklich dazu gedacht, die kranken Fremden einzusperren, und nur die rechtzeitge Entdeckung eines Medikaments hat diesen Plan unnötig gemacht? Wie weit kommen wir mit Gewaltverzicht, Empathie und Mitgefühl? Wann ist ein Paradies überfordert und muss (?) zum Eigenschutz auf die altbewährten Mittel – Gewalt, Kasernierung, Ausgrenzung zurückgreifen? Große Fragen für eine scheinbar kleine Geschichte.
    Ich allerdings hatte beim Lesen noch einen ganz anderen Verdacht: Ich traute dem Frieden nicht, vermutete einen teuflischen Plan hinter all dem Frieden-Freude-Eierkuchen-Gedöns. Gibt es diesen Plan, Sabine? Erfahren wir davon in einer Fortsetzung?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert