Als der Harzer Käse in hohem Alter beschloss
vom Ding zum Menschen zu werden
und die Käseglocke hob
um in die Welt hinauszutreten
da war ein scharfer Gestank um ihn.
Das war der Gestank der Reife
und er verflog schnell.
Bildquelle: wikipedia
Literatur-Werkstatt
Neulich war meine Frau da
Und brachte mir muffigen Gouda
Den sollte ich zerreiben.
Da ließen wir uns scheiden.
Toller Käse, Michael, ich fließe mit ihm. Ja, die Reife hat immer schon so ein „Geschmäckle“ vom Tadel Überreif.
Gestern, ich war gerade auf dem Nachhauseweg vom mir selbst verordneten täglichen Freiluftgang in der Dämmerung, da sah ich – schon aus einiger Entfernung – jemanden auf der anderen Straßenseite stehen. Bei uns ist die Bevölkerungsdichte mager, deshalb fiel er auf, wie er etwas abseits vom Wartehäuschen der Straßenbahn im Schneeregen stand. Er fiel mir auch deshalb auf, da er etwas mit seinen Händen machte, das mich unwillkürlich berührte: Als wringe er sich selbst aus, als ringe er um etwas, das mir nicht sichtbar war. Er war derart in seiner Rolle, dass er nicht aufblickte. Auch nicht, als ich direkt ihm gegenüber auf dem Bürgersteig stehen geblieben war und ihn – ich gebe es zu – etwas penetrant musterte. Ich wünschte, er würde den Blick heben. Warum? Irgendwann näherte sich die Tram. Als ich ihr Quietschen hörte, spürte ich Unwillen. Als würde mir gleich etwas weg genommen. Etwas, das mir nie gehört, das ich aber gerne besessen hätte.
Als die Tram wieder anfuhr, war die Haltestelle leer. Ich kreuzte gleich die Straße und stand mit geschlossenen Augen und witternden Nasenflügeln im nassen Schnee. Ich nahm einen zarten Geruch von Kümmel war und fand, als ich die Augen wieder öffnete eine handvoll verstreuter Kümmelsaat auf dem Schneematsch. Ich ging langsam nach Hause und trocknete mir die Haare. Das nagende Gefühl von Verlust hat mich seither nicht mehr verlassen.
Was hat der Typ da gemacht? Hat er von einem Harzer Roller die Kümmelkörner abgerieben? Und was ist es, das du gerne besessen hättest, jedoch nie gehabt hast?
Könnte es eine Rolle Harzer Käse gewesen sein?
Nee, wahrscheinlich nicht.
Rätselhaft.
An einem anderen Tag mit frisch operiertem Auge:
Ein mutiges Gedicht, Michael. Doch welche Käseglocke verlässt der sonst so hartnäckige Harzer, um Mensch zu werden? Das Gesetz? Den Staat? Oder ist es die kuschelige Decke der Gleichgesinnten? Die unserer vorgefassten Meinungen? Kommen wir überhaupt frei von Decken? Wie ist es mit den Reflexen unserer schwarzen Urahnen, die uns bis heute umgittern? Und ertragen wir das Leben überhaupt ohne den Schutz einer Decke, wo wir nun auch keinen freien Willen mehr haben? – Und kann der scharfe Gestank nicht der einer dümmlichen Selbstüberschaetzung sein bevor, mit Ende der Reife der letzte Deckel über uns zuklappt?
Ein schönes Gedicht. Ich muss mal lüften.
Ich frage mich, lieber Michael, ob, als der gereifte Käse zum Mensch wurde, nur der Gestank der Reife verflog oder auch die Reife selbst sich verflüchtigte.
Beides ist möglich. Unter einer Käseglocke herrscht keine gute Belüftung, vielleicht verflog draußen also nur der Gestank, und die Reife blieb.
Andererseits aber ist es durchaus möglich, dass Reife sich nur in einem abgeschlossenen Raum entwickeln und nur darin Geltung erlangen kann. Draußen, in der luftigen, grenzenlosen Weite verpufft sie, verfliegt sie, schrumpft sie zur Bedeutungslosigkeit, ja zum Nicht-Mehr-Vorhandensein.
Ist es so?
Na dann Prosit Mahlzeit, wie meine Oma immer sagte, wenn eine Sache ihr hoffnungslos erschien.