kreuzberger dichtungswerk

Katrin Bosshard, Bleibe. Kurze Erzählung

Bleibe. Kurze Erzählung
Lockdown-Telefonlesung 24.04.2020

Sie klebte auf dem Beifahrersitz. Es war einer dieser warmen Tage des Jahres, die einen sanftgrauen
Schleier über die Stadt legten. Die Stadt wirkte noch grobporiger an solchen Tagen. Beige in allen
Nuancen. Die Elemente verströmten eine schmutzige Trägheit, die auch ihren Sinnesapparat zu
betreffen schien. Ihre Lider drückten nach unten und sämtliche Reize drangen, wenn überhaupt,
ziemlich zeitversetzt zu ihrem Gehirn durch. Sie waren beim Getränkehandel gewesen, sie und ihr
Vater. Im Kofferraum klirrten bei jeder Kurve wie leise Versprechen ein paar frisch befüllte Kästen.
Bier, Sprudel und eine Flasche Ananassaft. Der Getränkemann hatte sich als ein Profi in Smalltalk
entpuppt. Er hatte ihr in Nullkommanix aus der Nase gezogen, dass sie die Abiturprüfungen alle
hinter sich gebracht hatte. „Die Welt liegt Dir zu Füßen!“ hat er ihr in seinem euphorischen Dialekt
zu gejubelt. Bei diesem Ausruf hatte sie unwillkürlich den Kopf ein wenig tiefer zwischen die
Schultern gezogen und gehofft, dass niemand mit gehört hatte. Ihr Vater tat unbeteiligt. Dass
Zukunft nicht ihr Lieblingsthema war, hatte er begriffen und er war so freundlich es nicht mehr zu
erwähnen. Schnitt jemand dieses Thema an, so berief sie sich auf den Moment. Was haben wir
denn, als nur die Gegenwart! Ihr war klar, dass ihr nichts und niemand zu Füßen lag. Und falls sich
dort zufälligerweise doch etwas befand, dann würde sie es nicht heraus bekommen. Die Strecke bis
zu ihren Füßen überstieg ihre Vorstellungskraft. Überhaupt – was sollte sie mit etwas, dass ihr zu
Füßen lag.

Sie bewegten sich im Rhythmus der Ampelschaltung den Hang hinauf dem Elternhaus entgegen. An
der Ecke, wo sich zwei befahrene Ausfallstraßen kreuzten, standen sie bei Rot. Die Auspuffgase der
Autos vor ihnen ließen die Luft wabern. Allein dieser Ausblick ließ sie kürzer atmen. Sie wies auf
ein Eckhaus. Es war eins dieser schwarz angelaufenen Häuser um die vorherige Jahrhundertwende
entstanden. Der Stuck säumte, in Anbetracht des Feinstaubs der Jahrzehnte, demotiviert wie niemals
abgeschminkte Hängebäckchen, die Kilometerlange Vorstadtagonie. Sie sagte: „Da in die Wohnung
über dem Pizzalieferdienst, in dieses Zimmer an der Ecke mit den dreckigen Fenstern, da werde ich
hinziehen.“

Der Vater sah sie milde an und trat dann auf die Kupplung, um leise klirrend abzubiegen.
„Da kann ich mich sehen,“ fuhr sie fort, „in einem Ohrensessel. Ich bin da einfach. Nur so. Und
durch die Fenster sickert immer mal Sonne ins Zimmer und dann sehe ich dem schwebenden Staub
hinter her.“

Der Vater war langsamer geworden. Er hatte eine gute Lücke entdeckt, sah über die Schulter und
parkte elegant ein.

(2019-01-15)

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