kreuzberger dichtungswerk

Annette John, Die letzten Tage. Erzählung

Die Gewissheit war über uns gekommen wie ein Sommerregen bei Nacht. Sanft und schön und klar. Man fragt sich nicht, warum es regnet, und schon gar nicht, ob es überhaupt regnet, man sieht es, man fühlt es, man hört, riecht und spürt es. Zweifel gibt es keine. Genau so war es mit der Gewissheit. Das Ende war  nah.  Zehn Tage noch waren uns gewährt, zehn Tage um Abschied zu nehmen. Dann würden wir vergehen, wir alle. Niemand würde bleiben, nicht das neugeborene Kind, nicht die hundertjährige Greisin. Die Erde würde sich unserer entledigen. Sie selbst würde weiterbestehen, ebenso die Pflanzen und Tiere, wir aber nicht.

Manche sprachen von einem Traum, den alle Menschen gleichzeitig geträumt hatten, doch das war es nicht. Es kommt ihm vielleicht nahe, und ist doch meilenweit entfernt. Von einem Traum, selbst wenn man sich kaum an ihn erinnert, bleiben Bilder, Töne, Stimmen oder Stimmungen, sowie die Kenntnis um den Traum als solchen, als Ausgeburt unserer nächtlichen Gehirnaktivitäten. Die Gewissheit war anders. Sie sickerte im Schlaf in uns ein, wie Regen ins Erdreich und blieb. Bei uns allen.

Am Morgen nach der Nacht der Gewissheit erwachten mein Mann und ich gleichzeitig. Allen Paaren, die einander zugetan waren, so erfuhren wir später, erging es ebenso. Wir fassten uns bei den Händen und sahen uns lange in die Augen.

„Schade“, sagte mein Mann.

„Ja“, sagte ich.

Wir gingen zur Arbeit, er in sein Architekturbüro, ich in meine Schule. Ich sah die Gewissheit in den Augen der Kollegen, ich spürte sie im Verhalten der Kinder. Ja, auch die Kinder wussten Bescheid, zumindest die schulpflichtigen. Alles war anders. Ruhe herrschte, als hätte sich über Nacht ein Gewebe  herabgesenkt, ein Schleier aus Sanftheit und Resignation, wohlig, traurig und befremdlich zugleich, der jede Aggression, jede Überreaktion schluckte, bevor sie ausbrach, ja bevor sie sich überhaupt bemerkbar machen konnte. Hin und wieder, sehr selten, hörten wir hysterisches Gekicher, das jedoch sehr schnell und ohne dass ein Lehrer eingreifen musste, verstummte.

„Weiß sie es auch?“, hörte ich fragen, als ich meinen Klassenraum betrat.

„Siehst du doch, Schwachkopf!“, kam prompt die Antwort.

Ja, wir sahen es uns an. Wir wussten und spürten es. Worte waren überflüssig.Trotzdem fragte mich eine Schülerin: „Ist es wahr?“

„Ja,“, sagte ich, „es ist wahr.“

Ich hielt meinen Unterricht wie immer, doch nein, das kann ich so nicht stehen lassen. Ich hielt meinen Unterricht, wie ich ihn immer gerne gehalten hätte: ruhig, meiner selbst sicher, meinen Schülern und Schülerinnen fühlbar zugetan, ungestört, humorvoll, friedvoll. Sie dankten mir am Ende durch ein gemeinsames Trommeln auf die Pulte – Gott weiß, wie sie von diesem Brauch erfahren haben – manche auch durch einen Handschlag, oder eine Umarmung. Da kamen mirdieTränen.

Nach Schulschluss berief die Leiterin eine Konferenz ein, die kürzeste der Schulgeschichte.

„Wir machen weiter, als ob nichts wäre“, verkündete sie. „Gegenargumente?“

Keine. Niemand meldete sich. Ich auch nicht. Wozu? Zehn Tage sind schneller vorbei, als du gucken kannst. Warum sich streiten, worüber diskutieren?

Nach der folgenden Nacht wussten wir alle, dass uns nur noch neun Tage bleiben würden.

Mein Mann ging nicht mehr zur Arbeit. Er wolle „Die Brüder Karamasow“ lesen, sagte er, ein Projekt, das er immer wieder verschoben habe.

Ich fuhr zur Schule. Nur noch die Hälfte der Kollegen war erschienen und weitaus weniger als die Hälfte der Schüler. Wieder berief die Leiterin eine Konferenz ein. „Was für ein Dummkopf ich war“, sagte sie. „Weitermachen, als ob nichts wäre! Neun Tage! Gehen Sie zu Ihren Familien, suchen Sie Ihre Liebsten auf! Genau dieses werde ich auch den Kindern sagen. Ab heute ist die Schule geschlossen. Die Schule als Institution, meine ich, nicht jedoch das Gebäude. Wer immer es nutzen will, soll es tun, sei es als Obdachlosenasyl, sei es als Volksküche oder Partyraum, jeder nach seinem Willen, jeder nach seinen Bedürfnissen.“

So endete meine Laufbahn als Lehrerin. Das Schulgebäude jedoch suchte ich in den kommenden Tagen noch öfter auf. Ich half in der Volksküche. Jeden Abend kochten wir für das Viertel. Das hört sich nach Arbeit an, doch ich versichere Ihnen, es war ein Vergnügen. Die Lebensmittel bekamen wir aus den umliegenden Supermärkten, Kaufhäusern und Großmärkten. Geld spielte keine Rolle. Geld gab es nicht mehr. Wer viel hatte, teilte mit dem, der wenig hatte. Wozu irgend etwas horten? Für wen? Reiche Leute kamen mit ihren kostbaren Champagnervorräten und teilten sie mit Bettlern. Abends saßen wir bis spät im Schulhof, ließen Kerzen und Lampions leuchten, hörten Musik, machten Musik, tanzten, lachten – wehmütig zwar, doch wir lachten. Die Nächte waren warm, duftend und wundervoll. Die herrlichen Nächte des frühen Sommers. Was für eine Gnade!

Natürlich werden Sie jetzt fragen, wer immer Sie auch sein mögen, war das wirklich so? Romantisiert diese Schreiberin nicht bis zum Exzess? Kommt es in solchen Endzeitszenarien nicht immer auch zu Verbrechen – Plünderungen, Vergewaltigungen, Mord, Terror?

Zwei Antworten, beide natürlich aus meiner beschränkten Sicht heraus. Ich hatte nicht die ganze Welt im Blick, nur mein Viertel, meine Stadt und die Nachrichten, die immer noch über die Medien verbreitet wurden.

Erstens. Die Meschheit ist besser als ihr Ruf.

Zweitens. Doch ja, einige Verbrechen geschahen tatsächlich, jedoch in weitaus geringerem Maß, als Sie sich vorstellen.

Plünderungen im eigentlichen Sinn gab es nicht. Man plündert, um sich zu bereichern, um Schätze zu horten. Das war sinnlos geworden. Trotzdem gingen viele Leute in die offenstehenden Läden und nahmen sich Dinge, die sie immer bewundert, jedoch nie besessen hatten. Sie wollten wissen, wie es sich anfühlt, kostbare Stoffe direkt auf der Haut zu tragen, oder eine unbezahlbare Brillantkette. Sie liefen eine Weile damit herum und gaben die Sachen dann weiter. Ich sah eine Obdachlose, die nach wie vor ihre paar Habseligkeiten in einem schäbigen Rollkoffer hinter sich herzog, doch gekleidet war sie in wunderschönes Gewand aus fließender, meergrüner Seide. Hoch erhobenen Hauptes schlenderte sie ihres Weges wie eine Königin. Niemand hatte etwas daran auszusetzen, alle freuten sich mit ihr.

Sehen Sie, die Gewissheit des nahen Endes tat etwas mit uns. Ich will nicht einmal sagen, dass sie uns veränderte, nein, sie brachte zum Vorschein und zur Wirkung, was immer schon in uns gewesen war. Nennen sie es den guten Kern, Empathiefähigkeit, Nächstenliebe, die Bereitschaft zu erkennen, was wirklich wichtig ist.

Bei allen Menschen weltweit? Nein. Bei einigen wohl nicht. Doch das waren Einzelfälle. Die Kriege hörten auf, ebenso der Terrorismus. Die Gotteskrieger legten ihre Waffen zur Seite und beteten. Alle religiöse Menschen beteten. Kirchen, Moscheen und Tempel waren überfüllt.

Die Lagerhäuser aber, in denen unendliche Mengen der landwirtschaftlichen Überproduktion gehortet worden waren, leerten sich zusehends. Luftbrücken wurden eingerichtet, Lebensmittel in die Hungergebiete geflogen. Plötzlich war das möglich, plötzlich waren alle Hürden, die vorher so unüberwindlich schienen, gefallen. Niemand, so der allgemeine Konsens, sollte seine letzten Tage in Elend und Hunger verbringen müssen.

Auch die Krankenhäuser standen zum größten Teil leer. Laufende Behandlungen wurden abgebrochen, neue gar nicht erst begonnen. Schmerzpatienten wurden versorgt. Die Sterbenden auf den Intensivstationen hatten natürlich ebenfalls die Gewissheit erfahren. Sie wollten ausharren bis zum letzten Tag, wollten gehen, wenn alle gingen. Ein verständlicher Wunsch, ich hoffe, er wurde ihnen erfüllt.

Und Trauer, höre ich Sie fragen? War nicht eine unendliche Trauer über die Menschen gkommen? Ja. Natürlich trauerten wir. Wir trauerten mit der Mutter neben ihrem gerade geborenen Säugling, mit der Schwangeren, die ihr Kind niemals in den Armen halten würde, und ja, lachen Sie nicht, auch mit den Besitzern von Tieren. Was würde aus den Haus- und Schoßtieren werden, wenn niemand sie mehr versorgte, was aus den Nutztieren, den Milchkühen in ihren Boxen, zum Beispiel?

Aber wenn das Ende so nahe ist, für alle und jeden gleich, dann liegt auch darin ein großer Trost. Was wir tun konnten, taten wir. Wir waren freundlich und liebevoll zueinander. Mehr war nicht möglich, aber das war viel.

Am sechsten Tag fuhren mein Mann und ich zu unserer Tochter Yvonne. Sie lebt mit ihrem Mann und der kleinen Marie auf einem umgebauten Hof im Südschwarzwald. Es fiel uns beiden nicht leicht, unser Viertel in Berlin zu verlassen. Es war so schön geworden. Möbel waren auf die Straße geschleppt, öffentliche Salons eingerichtet worden. Es gab Bühnen, auf denen sich jeder, der wollte, produzieren konnte. Sie glauben ja gar nicht, wieviele Schauspiel- Musik- oder Literaturtalente sich in jenen letzten Tagen enthüllten. Ich spielte mit einigen anderen die beliebtesten Loriot Sketche nach. Mein Mann trug die berühmte Passage des Großinquisitors aus den Brüdern Karamasow vor.

Und nun ist es bald so weit. Der Abend des zehnten Tages ist da. Wir sitzen vor dem alten Haus und schauen über sanfte grüne Hänge, über Obstwiesen und Weingärten. Langsam wird es dunkel, wir zünden Windlichter an. Marie, die Zweijährige,  ist auf dem Schoß ihrer Mutter eingeschlafen. Sie weiß nichts, die kleinen Kinder wissen es nicht, da sind wir uns einig. Michael, unser Schwiegersohn, klappt sein Notebook zu. Bis eben hat der die Nachrichten aus  den Ländern verfolgt, in denen es früher Mitternacht wird als bei uns. Er sagt nichts, es ist nicht nötig. Wir sind zusammen. Auch seine Eltern sind gekommen, seine Geschwister und ihre Familien,  viele Freunde und Nachbarn. Wir schweigen miteinander. Wie schön es doch ist. Was für ein wunderbares Leuchten in dieser letzten Nacht liegt. Unsere Erde, zehn Tage lang war sie ein Planet des Mitgefühls, des Teilens, der Liebe. Eigentlich hätte es immer so sein können, nichts hatte uns daran gehindert, diese Schönheit zu erschaffen und zu erhalten, nur wir selbst.

Doch immerhin hatten wir diese letzten Tage.

2 Kommentare

  1. Es ist immer ein bisschen blöd, einen Kommentar zur eigenen Erzählung zu schreiben, aber hier muss es sein.
    Was ich damals bei der Lesung unserem Publikum sagte, sollten auch die Leser dieser Seite wissen: Die Idee zu dieser Erzählung stammt nicht von mir, sondern sie entspringt der Story eines berühmten SF-Autors, ich glaube, es war Ray Bradbury, lasse mich jedoch gern eines Besseren belehren.
    Auch in der Ursprungserzählung erfahren die Menschen, alle Menschen, auf geheimnisvolle Weise von ihrem bevorstehenden Untergang, haben jedoch im Gegensatz zu meiner Neu-Erzählung nur noch einen einzigen Tag zu leben.

  2. Wie dem auch sei, von wem schon gedacht, wie lange die Zeit, ist für mich ganz unerheblich bei diesem von Zartheit und Liebevollem ueberflutenden Text. Ich war bis zum letzten Tag dabei.

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