kreuzberger dichtungswerk

Michael Kreutzer, Warum ich heute nicht lese

Liebe Kolleg*innen:

Leider kann ich zu unserer heutigen Lesung nichts beitragen. Zunächst, das wisst ihr, liegt mir kein Thema so fern wie dieses: Ausschweifungen. Dennoch war ich auf dem besten Wege zu einem kleinen Gedicht, und zwar begann es mit zwei Zeilen, die mich wider Erwarten wirklich beglückten:

Und bin ich selbst nie ausgeschweift
ist mein Gedicht doch ausgereift.

Das sollte der Refrain werden.

Ich saß also, das war vor etwa drei Wochen, morgens um acht beschwingt am Schreibtisch, da klingelt’s, und in der Tür steht Rita. Das kenne ich schon, Rita arbeitet schräg gegenüber, zwei Stock überm Späti, nachts als tabulose Alte, morgens besucht sie mich manchmal zum Quatschen. Jetzt aber sagt sie: Heute ist mein 65., ich brauch ‘n Absacker, kommste mit. Na gut, wir also zu Henri an der Ecke, und da, jetzt kommt’s, da war aber die Hölle los, brechend voll, und alle schrien: Surprise, surprise! Alle waren sie da, Ritas Enkel, Urenkel, jede Menge Freier, und alle zu Rita und mir: Kommt, trinkt einen mit uns. Um halb zehn war ich hackedicht. Kommt einer der Enkel und sagt: Biste müde, Opa, er hätte hier was. Gibt mir so’n Kügelchen mit’m Aufdruck drauf, konnt ich nicht lesen, sagt er: Wie alt biste denn, ich sag, siebzig. Dann nimm mal besser drei, sagt er, ich schluck die Pillen, meine Augen quellen über die Brille, ich sag, Mann, die knallen aber. Mir fielen gleich drei Gedichtzeilen auf einmal ein, ich wollte nach Hause, schreiben, aber er sagt, du kriegst jetzt Durst, du musst trinken, und da steht auch schon der nächste Halbe vor mir auf’m Tresen und der nächste Kurze daneben.

Mein nächstes Tief hatte ich dann so gegen zwölf. Kommt so’ne hübsche junge Kennichnich, und sagt: Komma mit in die Besenkammer, sie hätte da was, das wär aber nix für den Tresen. Da hatte sie so’n Pulver und so’n Röhrchen, das hatte ich schon mal im Fernsehen gesehen, ich sage: Nee, nee, lassma, aber da hing so’n Mopp in der Besenkam­mer, den setzt sie mir als Perücke auf’n Kopf und sagt: Also für fuffzig biste echt gut drauf. Ich sag, siebzig, ich bin siebzig, aber dann sah ich mich so mit dem Mopp auf’m Kopf im Spiegel, nix graue Haare, und ich denke, recht hat sie, und mit fuffzig musste dir die Linie nun eben mal reinziehn, ist schließ­lich nur logisch. Und kaum waren meine Augen wieder in ihren Höhlen, da stand ich auch schon am Tresen, und zwar absolut in Höchstform, so’ne Mischung aus Herkules, Adonis und Umberto Eco, stark, schön, brillant, mit dunklem Haar und ner kalten Nase wie ne gesunde Katze. Mein Gedicht hatte ich auf einmal schon fertig im Kopf, und ich sah mich vom Deckenventilator aus aufm Tresen stehen, weiß nicht, wie ich raufgekommen war, wahrscheinlich einfach hochgeflankt, ich rezitierte, den Refrain vom Gedicht hatte ich geändert:

Bin ich auch mächtig ausgeschweift
Das Gedicht ist prächtig ausgereift

Mächtig ausgeschweift prächtig ausgereift, das sind nicht eine, nicht zwei, nicht drei – nein, immerhin fünf Silben auf einmal, die sich reimen, deswegen konnten das alle gleich mitsprechen und dann sogar mitsingen. Was zwischen den Refrains kam, weiß ich nicht mehr, aber Gesang und Beifall trugen uns dann, weil Henri seine Kneipe dicht machte, so von Kreuzberg nach Friedrichshain, und dann kam da irgend so ein Singer Club in Stahnsdorf, da sang aber keiner, und ne Menge anderer locations, die ich noch nie gesehen hatte, bonbon­rosa, tiefrot und sehr, sehr dunkel, zwischendurch komischerweise immer wieder auch die eisigen Felsen des Nanga Parbat, wohl von wegen Was macht der Maier im Himalaya… Egal.

Jedenfalls, so richtig zu mir gekommen bin ich in Gifhorn.

Und zwar auf den Kacheln im Waschraum auf der Bahnhofstoi­lette, wo mir die Klofrau freundlich sagte, es sei jetzt wohl mal Zeit zum Aufstehen, sonst müsse sie mich leider aufwischen. Als ich mich am Waschbecken hochgezogen hatte, sah ich im Spiegel einen Typen mit’m Soundsoviel-Tage-Bart und ner rosa Strumpfhose an, nem Silberkettchen um den Hals und nem schwarzen grobmaschi­gen Netzunterhemd überm nackten Oberkör­per, und der war über und über bemalt und beschriftet mit Filzstift-Tattoos, und als ich an mir herunter­sah, stand da: Für meinen Süßen, Carola – Mach’s noch einmal, Sam – Du bist der Schärfste, Deine Fritzi – bis nächstes Jahr in Bad Sachsa, aber bitte mit Sahne, Dein Udo (Klammer auf: Undine: Klammer zu) – und das dickste Tattoo war so mit einem Engel, der sah aus wie ne Kreuzung von Reichsadler und Pekingente und hatte einen Lorbeerzweig in der Hand, und dieses Tattoo war von Rita. Darunter hatte sie mein Lieblingsgedicht geschrie­ben, keine Ahnung, woher sie es kennt, aber das war total lieb, es stammt von Friederike Kempner, meinem großen Vorbild, Ihr kennt es, wie oft habe ich es Euch vorgelesen:

Poesie ist Leben
Prosa ist der Tod
Engelein umschweben
unser täglich Brot.

Und ich dachte, das mit den Engelein passt, ich spürte ja deutlich das Flattern der Flügel in den Ohren, aber von täglichem Brot konnte keine Rede sein, mein Magen knurrte erheblich.

Den Mopp aus der Besenkammer von Henri hatte ich immer noch aufm Kopf, und der Mopp und der Hunger gaben mir meinen inneren Halt und meine Orientie­rung zurück. Als ich ins Freie trat, war es kurz vor acht Uhr morgens, Freitag, 14. Februar, gestern. Spätestens die Blicke der Leute in der nächsten Dönerbude machten mir auch klar, dass ich nicht irgendwo in Kreuzberg war, ich meine, in Gifhorn fällt man mit rosa Strumpfho­se und schwarzem Netzun­terhemd im Schnellimbiss schon noch ein bisschen auf. Ich kaufte mir schnell n Pelzmantel im Second Hand Shop in der Fußgängerzone von Gifhorn und für alle Fälle, weil ich nix anderes fand, noch ne hochgeschlossene taillierte Latexjacke, und ab nach Berlin, denn morgen, Samstag, also heute, ist ja Lesung.

Aber, liebe Kolleg*innen, mit meinem Beitrag ist es nun doch nichts geworden, ich schaff’s grad noch, mich umzuziehen, ich mach’s kurz, drei Gründe, dass von mir nichts kommt: 1) Dreimal Umsteigen nach Berlin hat prima geklappt, aber ich bin leider erst in Warschau aufge­wacht. 2) Das einzige Gedicht, das vielleicht irgendwie gepasst hätte, liegt irgendwo in Gifhorn. Und 3): Von Ausschweifungen habe ich nun mal einfach nicht die geringste Ahnung.

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