kreuzberger dichtungswerk

Sabine Wilde, Die Stimmenhörerin. Kurze Erzählung

Langsam, wie in Zeitlupe, steht sie von ihrer fleckigen Matratze auf. In dem schmuddeligen, karg möblierten Zimmer riecht es nach Rosen. Drei Duftlampen verbreiten diesen Geruch als grellen Kontrast zu der übrigen Tristesse. Obwohl es Sommer ist, hat sich die Sonne einen dicken Wolkenmantel angezogen. Sie will jetzt nur zwei Dinge, sich anziehen und dann ihre ungemütliche Wohnbutze verlassen. Wie gerne würde sie unter den zwei prächtigen Kastanienbäumen neben der Admiralsbrücke nächtigen, doch schlechte Menschen, Wohlwollen heuchelnd, hatten sie hier einquartiert, mit der Drohung, sie in ein Heim einzuweisen, wenn sie wieder am Kanalufer hauste. Die Furcht vor solcher Zwangskasernierung ließ sie ihr Los grollend und traurig akzeptieren. Nun öffnet sie eine Sicherheitsnadel und nimmt sich ein damit notdürftig fest-gehaltenes vergrautes Laken vom Leib. Sie schaut an ihrem nackten Körper herunter. „Du bist kein Grashalm, du bist eine eben erblühte Rose“, mogelt sich eine vertraute hohe Frauenstimme in ihr noch verschlafenes Gehirn. Lächelnd nimmt sie zwei hellblaue Babydecken vom Stuhl, wickelt sie sich jeweils um die Unterschenkel und befestigt diese mit reichlich Geschenkband. Dann greift sie eine knallrote Fleecedecke, hängt sie um ihren viel zu dünnen Körper wie eine Tunika und befestigt alles mit einer Brosche und einem alten Gürtel. Auf dem Küchentisch liegen zwei Plastikrosen, die steckt sie sich in das zerzauste Haar und schreitet aus dem Haus.

Die Luft ist kühl und sie hat den Eindruck, an diesem Tag ganz besonders viel Sauerstoff aufnehmen zu können. Sauerstoff, Sonne und Regen braucht sie, um sich stolz entfalten zu können, auch die Bilder in ihrem Kopf werden durch diese Nahrung bunter und klarer. Mozzarella und Obst nimmt sie abends jede Menge zu sich und bezeichnet diese Lebensmittel als ihre Erde. Der von saftig grünen Trauerweiden und Kastanien umsäumte Kanal riecht faulig, doch das macht ihr nichts aus. Weit ausschreitend dreht sie ihre Runde von Brücke zu Brücke. Eine Joggerin starrt sie völlig irritiert an.

„Du bist eine alte Hure“, dröhnt plötzlich die Stimme ihres Vaters in ihr und löst als Resonanz ein heftiges Zit-tern ihres Oberkörpers aus. „Bin ich nicht!“, schreit sie so laut, dass sich die Joggerin erschrocken umdreht. Auf der gegenüber liegenden Seite vom Kanal strampeln sich Radfahrer zur Arbeit. Auf einem Bein stehend ruft sie ihnen zu: „Ihr seid alles nur Grashalme“, gehetzt läuft sie weiter.

Plötzlich stoppt sie ein kleiner schwarzer Mops, der herren- und leinenlos vor ihr steht. Das Tierchen schaut sie neugierig an, wedelt mit seinem Stummelschwanz und bellt dezent, als würde es ihr eine Mitteilung machen wollen. Ihr eben noch verkrampftes Gesicht entspannt sich, sie lächelt den Hund an und ein Schauer von Glück kitzelt in ihrem Magen. Den Hund streichelnd antwortet sie ihm sanft und dankbar: „Ich weiß, du findest mich bildschön.“ Scharf, aggressiv und zerstörend schreit es genau in diesem Augenblick: „Hubert, komm sofort hierher und lass die Olle in Ruhe!“ Der Hund gehorcht und wetzt davon.

„Du bist nichts als Abfall“, kreischt jetzt die gefürchtete Vaterstimme in ihr. Sie beginnt zu rennen, schwerfällig, unsicher, flüchtend vor einer Gefahr, die nur sie kennt.

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