kreuzberger dichtungswerk

Annette John, Verbeulter Mond (I)

Über der Stadt hing ein verbeulter Mond. Wahrscheinlich abnehmend, er wusste es nicht. Links von ihm aus gesehen war die nach innen gerichtete Beule. Die rechte Seite war noch schön rund. Dadurch bekam der Himmelskörper ein längliches, verdrießliches Gesicht. Dieses war gut erkennbar, Augen, Nase, Mund. Schiefes Kinn. An irgendwen erinnerte ihn dieses Gesicht, doch er kam nicht drauf. Vielleicht eine Comic-Zeichnung.

Ganz allein hing es da oben in seiner Verdrießlichkeit und schaute herab. Wolken gab es nicht. Sterne auch nicht. Der Himmel war von reinem Schwarz.

Armes Kerlchen, dachte er.

Er wollte etwas tun, Schreiben, zum Beispiel. Emails warteten auf ihre Beantwortung, Ideen für seine wöchentliche Kolumne, sogar für seinen angefangenen Roman schweiften durch sein Hirn, doch er ließ den Rechner ungeöffnet, er konnte sich nicht lösen vom verbeulten Mond.

Vielleicht will er nicht schwinden, dachte er.

Schließlich machte er einen Spaziergang durch sein Viertel, trank in einer Kneipe zwei Bier, schaute ein wenig Fußball, tauschte mit anderen Thekenhockern ein paar nichtssagende Bemerkungen, zahlte und ging nach Hause. Der Mond war verschwunden. Nur noch ein weißer Fleck am immer noch sternen- und wolkenlosen Nachthimmel kündete von dem Platz, an dem er vor ein paar Stunden noch gehangen hatte. Das war seltsam beunruhigend. Er erinnerte sich, dass er einmal ein Buch von Murakami gelesen hatte, in dem sehr, sehr merkwürdige Dinge geschahen. Angefangen hatten diese Dinge, als am Himmel über Tokio plötzlich zwei Monde hingen.

Zu Hause machte er sich ein Käsebrot, trank ein weiteres Bier, machte sich bettfertig, legte sich hin. Doch schlafen konnte er nicht. Unruhe wirbelte in ihm. Er fühlte sich an seine Kindheit erinnert, da war es ihm genauso gegangen, immer in den Nächten vor großen Ereignissen, Weihnachten zum Beispiel, seinem Geburtstag oder am Abend vor der Urlaubsreise. Er hatte die Beine nicht stillhalten können, die Arme auch nicht, den ganzen kleinen Körper nicht. Überall hatte es ihn gejuckt, am Kopf, am Rücken, am Bauch, und gerade so ging es ihm jetzt wieder. Er gab auf, schlüpfte in seinen Bademantel, trat auf den Balkon hinaus. Die Nacht war mild und windstill. Der Himmel schwarz und sternenlos und immer noch war da dieser weiße Fleck, wo früher am Abend der Mond gehangen hatte. Der selbst war nicht zu sehen. Gut, das war normal, der Mond wanderte im Lauf einer Nacht, jedoch hinterließ er keine weißen Markierungen. Oder doch? War das auch normal, ihm bloß noch nie aufgefallen? Er beugte sich über die Brüstung, soweit es gefahrlos möglich war und suchte den Himmel ab. Nichts zu sehen, kein Mond. Allerdings konnte er von seinem Balkon aus nur ein Teilstück des Himmels sehen, von weiter oben hätte er einen besseren Blick.

Kurz entschlossen steckte er seinen Schlüssel ein, verließ die Wohnung, machte sich auf den Weg zum Aufzug. Der war schon da, als hätte er auf ihn gewartet. Er drückte den Knopf für die neunte Etage. Dort oben war eine Art Gemeinschaftsraum, der allen Bewohnern des Hauses und ihren Gästen zur Verfügung stand, eine Lounge mit Couches eingerichtet, einer Selbstbedienungsbar, sogar eine Küche gab es. Außerdem lief eine schmale Galerie außen ums ganze Haus herum, die man von den Fenstertüren aus betreten konnte. Da wollte er hin, von dieser Galerie aus würde er den gesamten Himmel betrachten können. Tagsüber war die Lounge immer gut besucht, jetzt allerdings, um – er schaute auf seine Uhr – kurz vor zwei, war bestimmt niemand hier oben. Oder doch? Gedämpftes Licht drang durch die Glastür auf den Korridor, und er meinte auch, Stimmen zu hören. Ach verflixt, er war nicht richtig angezogen, trug Turnschuhe ohne Socken, sein Schlafzeug und den Bademantel darüber. Sollte er wieder gehen? Noch während er unschlüssig dastand wurde die Tür von innen aufgezogen.

„Kommen Sie, schnell, nur nicht so schüchtern, hier ist alles ganz informell.“

Der Mann, der das sagte, wirkte allerdings überaus formell. Er war schon älter, sein silbergraues Haar war akkurat frisiert, und er trug einen grauen Dreiteiler.

Der Raum selbst lag im Halbdunkel, nur bei den Couches, die den seitlichen Fenstertüren am nächsten standen, brannten ein paar Lampen. Dort saßen Leute und unterhielten sich. Erleichtert stelle er fest, dass er doch nicht allzu unpassend angezogen war, auch bei den anderen waren einige Bademäntel zu sehen.

Der Alte, der ihm die Tür geöffnet hatte, zog ihn zur Bar und drückte ihm ein Glas in die Hand. „Nehmen Sie“, sagte er. „Sie werden es brauchen.“

Es war Rum, schwer und süß und samtweich. Er mochte keinen Rum, eigentlich trank er nie etwas Stärkeres als Bier, doch er musste zugeben, dass der Schnaps ihm guttat.

Der Alte geleitete ihn zu den anderen, die ihm neugierig entgegensahen. Die Gesichter waren ihm vertraut, es waren alles Nachbarn aus dem Haus, doch mit keinem hatte er mehr als ein paar Worte gewechselt.

„Ein weiteres Mitglied für unsere Nachtwachen“, sagte der Alte und begann mit der Vorstellung. Er nannte nur die Vornamen, neun Leute waren es mit dem Alten, der Harry hieß. Sein Name prägte sich ihm ein, die anderen rauschten am ihm vorbei.

„Und Sie sind?“, fragte Harry.

„Erik“, sagte er.

„Willkommen, Erik. Mit Ihnen sind wir zehn. Eine gute Zahl. Ich glaube nicht, dass noch weitere Leute zu uns stoßen werden. Übrigens sind Sie gerade noch rechtzeitig gekommen. Es ist zwei.“ Er wandte sich an die beiden Männer, die den Fenstertüren am nächsten saßen und die ganze Zeit abwechselnd durch ein schweres Fernglas geschaut hatten. „Ludwig, Arne, darf ich bitten?“

Die beiden legten ihr Fernglas auf den Tisch, erhoben sich und gingen mit Harry in die schwach erleuchteten Tiefen des Raumes. Beide waren sie große, schwere Männer. Ächzend machten sie sich an den Couches zu schaffen, hoben eine nach der anderen hoch und schleppten sie zur Eingangstür. Dort stapelten sie die Möbel und verkeilten sie. Offensichtlich hatten sie das schon öfters gemacht, die Arbeit ging ihnen flott von den Händen.

„Eine Barrikade?“, wunderte er sich laut. „Warum?“

„Gegen die Kleinen“, raunte die Frau neben ihm. „Sie kommen immer kurz nach zwei und bleiben bis ungefähr um vier. Bis jetzt sind sie nie höher als bis zum siebten gekrochen, aber Harry meint, man kann nie wissen. Darum sichern wir die Tür.“

„Aha“, sagte er. Kein Zweifel, er war unter Verrückten gelandet. Oder er träumte. Ja, vermutlich war es das. Er musste irgendwann doch eingeschlafen sein, lag in seinem Bett und träumte dies alles.

„Ich weiß genau, was du jetzt denkst“, sagte die Frau, „weil ich das auch gedacht habe, als ich zum ersten Mal herkam. Aber erstens sind wir nicht verrückt und zweitens träumst du nicht. Gleich wirst du sie hören.“

„Die, äh, Kleinen?“

„Genau.“

„Wie sehen die aus?“

„Weiß ich nicht“, sagte die Frau. Sie schüttelte sich. „Und ich will’s auch nicht wissen.“

„Hat irgendwer von euch sie schon mal gesehen?“

„Nein. Aber wir sehen ihre Spuren. Du wirst sie auch sehen, wenn du nachher runtergehst. Und von heute an, wirst du sie immer bemerken. Aber nur du, nur wir, die wir hier wachen, Nacht für Nacht. Andere sehen nichts. Sie sehen auch nicht den komischen Mond.“

„Naja“, sagte er. „Komisch ist eigentlich nur der weiße Fleck am Himmel. Der Mond ist ja schon weg.“

Jetzt erst erinnerte er sich, weshalb er eigentlich hier heraufgekommen war, er hatte von der Galerie aus den Himmel absuchen wollen. Er machte Anstalten, sich zu erheben, um nach draußen zu gehen, doch die Frau legte ihm die Hand auf den Arm. „Warte“, sagte sie.

Sie beugte sich über den niedrigen Tisch, angelte nach dem riesigen Fernglas, überreichte es ihm.

„Schau mal durch!“

Er nahm es, hielt es sich vor die Augen, suchte den weißen Fleck, justierte die Gläser – und schrie auf:

„Da ist er noch! Er ist immer noch da!“

„Tja“, sagte die Frau.

Der verbeulte Mond war immer noch zu erkennen. Nicht mehr so deutlich, aber deutlich genug, wenn man wusste, worauf man zu achten hatte: die Beule auf der linken Seite, das schiefe Kinn, der missmutig vergrämte Gesichtsausdruck. Alles leicht verschwommen wie hinter einem Schleier aus Gaze.

„Als ob er sich verschleiert hätte“, staunte er.

„Das macht er immer so“, erläuterte die Frau. „Meistens so gegen elf.“

„Nicht er macht das!“, rief eine andere Frau. „Die machen das. Die haben uns den Mond gestohlen! Die haben ihn ersetzt durch einen Satelliten, eine Überwachungseinheit, ein Monstrum!“

„Wer?“, fragte er.

„Na die“, rief die Frau. „Die Militärs. Die Regierungen. Die Geheimdienste. Die verborgenen Eliten.“

„Schon möglich“, sagte eine sonore Stimme hinter ihnen. Harry war hinzugetreten. „Möglich ist aber auch etwas gänzlich anderes, etwas, das sich unserer Vorstellung bis jetzt völlig entzieht. Sie sind da. Hört ihr sie?“

Alle Gespräche verstummten. Etwas knisperte, knackte, raunte, flüsterte, wehte wie Blätter im Wind. Etwas tappste, schabte, klopfte, kratzte. Oh das war schlimm. Etwas kratzte mit Krallen?, Nägeln?, über Tapetenwände, Wohnungstüren, Bodenfliesen. Ihm sträubten sich alle Haare. Wieso hatte er das noch nie mitbekommen, es war entsetzlich. So fremd! So fremd!

„Wir alle haben es irgendwann zum ersten Mal gehört. Danach jede Nacht“, flüsterte die Frau neben ihm. Sie rückte ihm nah, drückte sich an ihn. Er mochte das. Es störte ihn bloß, dass er ihren Namen nicht mehr wusste.

„Rachel“, flüsterte sie.

Lange saßen sie stumm und lauschten. Eine lange, lange Zeit. Endlich wurden die Geräusche schwächer. Seine Uhr zeigte halb vier. Geruch zog aus der Küche, guter Geruch. Er merkte, dass er hungrig war.

„Beate hat ihre Linsensuppe mitgebracht“, verkündete Harry. „Es gibt zwei Versionen, mit und ohne Würstchen. Wer will was?“

Er bestellte mit Würstchen und freute sich, als ihm seine Schale überreicht wurde.

„Wieso nennt ihr sie die Kleinen?“, fragte er und pustete auf seinen Löffel.

„Weil sie klein sind“, antwortete einer der Männer. „Oder wir glauben, dass sie klein sind wegen der Spuren, die sie hinterlassen. Aber vielleicht sind sie auch groß. Vielleicht kriechen sie auf allen Vieren, wir wissen es nicht. Niemand hat sie je gesehen, niemand will sie sehen. Willst du sie sehen?“

Er schüttelte den Kopf. Nein, dachte er, nein oh nein. Niemals.

„Warum rufen wir nicht die Polizei?“, fragte er.

„Und was willst du denen sagen?“, fragte der Mann von eben, „wenn die nichts sehen und nichts hören, genauso wenig wie wir alle bis vor kurzer Zeit, genauso wenig wir du selbst bis heute Nacht?“

Darauf gab es nichts zu antworten.

„Wie kommen sie ins Haus?“, fragte er.

„Auch das wissen wir nicht. Vielleicht ganz einfach durch die Haustür. Möglicherweise hat jemand mal seinen Schlüssel verloren und es nicht gemeldet aus Angst vor den Kosten. Vielleicht gibt es aber auch irgendwo ein Loch, im Keller, in der Tiefgarage, im Lüftungssystem. Fest steht nur, dass sie nicht durch Wände gehen können, das ist immerhin ein Vorteil.“

„Allerdings.“ Er nickte.

Langsam wurde es still im Haus. Nur noch die Lüftung in den Toilettenräumen summte, ein angenehmes, alltägliches Geräusch.

„Gut“, sagte Harry. „Ich glaube, wir können die heutige Wache für beendet erklären.“

Alle erhoben sich, begannen die Suppenschüsseln fortzuräumen und in die Küche zu tragen. Er half beim Abspülen. Ludwig und Arne bauten die Barrikade ab und schleppten die Couches zu ihren ursprünglichen Plätzen. Alles sah wieder ganz normal und ordentlich aus. Die Morgendämmerung brach an, der verbeulte Mond hinter seinem Schleier verblasste zusehends.

„Kommst du morgen wieder?“, fragte Rachel.

„Selbstverständlich“, sagte er und erst als er es sagte, merkte er, dass er es wirklich so meinte. Selbstverständlich würde er wiederkommen.

„Übrigens, Erik“, sprach Harry ihn etwas zögerlich an.

„Ja?“

„Also es ist so, dass immer jemand etwas zu essen mitbringt, so eine Nachtwache kann gefühlt sehr lange dauern. Würdest du vielleicht morgen …?“

„Oh.“ Er merkte, wie er rot wurde. „Ich kann leider nicht kochen, nicht wirklich meine ich. Aber“, er grinste, „meine Sandwiches sind Weltklasse. Wenn ihr damit einverstanden seid?“

„Natürlich“, rief Harry warm. Auch die anderen nickten und murmelten Zustimmung.

Sie versammelten sich vor dem Aufzug und fuhren in zwei Gruppen. Er war in der Gruppe mit Rachel. Das hatte sich einfach ergeben, und er war froh darüber.

Leider war die Fahrt sehr kurz, seine Wohnung lag im sechsten Stock. Der Aufzug hielt. Vorsichtig öffnete er die Tür und lugte hinaus.

„Keine Angst“, sagte Rachel. „Sie sind weg. Aber ihre Spuren sind noch da. Die wirst du sehen. Von jetzt an immer.“

Und so war es. Der Korridor war ein einziger, langer Weg von Dreck. Blätter, Erde, Sand, Holzstückchen, vertrocknetes Gras, Steinchen, Haar- oder Fellbüschel, etwas, das wie verknotetes Schiffstau aussah, und Pfützen, schaumig weiße Pfützen, vielleicht Speichel, vielleicht Unsägliches. Ein Geruch nach feuchter Erde, Fell und modrigem Wasser hing im Flur. Doch es waren keine Tiere, die hier gehaust hatten. Entlang der Wände, auch an jeder Tür waren Abdrücke von Händen, kleinen Händen wie von Kindern, allerdings krallenbewehrten Händen, die Kratzspuren waren nicht zu übersehen. Schaudernd erinnerte er sich an das grässliche Geräusch von Krallen, die über Wände und Böden schabten. Und keine der Spuren reichte höher als vielleicht einen Meter. Als hätte ein Heer von Zwei- bis Dreijährigen hier gehaust. Seine Tür sah aus wie alle auf dem Flur. Mit klopfendem Herzen schloss er sie auf, darauf gefasst, das Chaos innerhalb seiner Wohnung fortgesetzt zu sehen. Doch dem war nicht so. Alles war wie immer. Erleichtert atmete er auf, schloss die Wohnungstür und sperrte von innen ab. Das hatte er noch nie getan, doch jetzt hatte er das Bedürfnis nach Sicherheit. Gleichzeitig aber spürte er, wie ihn eine ganz neue Energie durchströmte. Er füllte die Espressokanne und setzte sie auf. Jetzt würde er einen guten Kaffee trinken, seine Emails abarbeiten, die Kolumne schreiben und abschicken und danach noch an seinem Roman arbeiten. Mittags würde er eine Runde joggen und auf dem Rückweg die Zutaten für die Sandwiches besorgen. Am Nachmittag würde er schlafen, jedoch den Wecker stellen. Gegen Mitternacht würde er die Sandwiches zubereiten und sich spätestens um eins auf den Weg nach oben machen. Das war ein guter Plan. Die Espressokanne brodelte. Er goss sich eine Tasse ein, trug sie zum Schreibtisch und öffnete voller Vorfreude den Computer.

(wird fortgesetzt)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert