(nach einer wahren Begebenheit)
„Möchtest du noch einen Kaffee?“ Annemie schwenkte die Thermoskanne.
Ruth schüttelte den Kopf. „Nee, danke. Ehrlich gesagt, würde ich gern bald losgehen. Es wird früh dunkel. Außerdem, wenn ich viel Kaffee trinke, muss ich auch viel aufs Klo. Das ist blöd bei einem Spaziergang. Du solltest auch nicht so viel trinken.“
„Es gibt Toiletten auf dem Feld“, entgegnete Annemie. Sie goss sich ihre Tasse nochmal voll und trank sie in einem Zug aus.
Wie ein trotziges Kind, dachte Ruth. Was macht sie denn, wenn die Toiletten geschlossen sind? Fast alles war geschlossen in dieser Zeit. Und hygienisch bedenkliche Örtlichkeiten wie öffentliche Toiletten bestimmt erst recht.
Sie zogen ihre Mäntel, Mützen und Schals an und verließen das Haus. Es war kalt. Blöderweise hatte Ruth ihre Handschuhe vergessen. Sie bohrte die Hände in die Manteltaschen, aber das half kaum. Die Kälte biss trotzdem zu. Sie überlegte, ob sie den Vorschlag machen sollte, umzukehren und es sich in Annemies warmer Wohnung gemütlich zu machen, beschloss dann aber durchzuhalten. Sie wollte die Tiere sehen, sie wollte unbedingt die Tiere sehen, warum ihr das so wichtig war, wusste sie nicht. Hoffentlich war es nicht allzu weit bis zu diesem Tempelhofer Feld.
Sie marschierten flott durch eine lange, gerade, kopfsteingepflasterte Straße. Rechts und links standen schöne alte Mietshäuser, alle mit Erkern und Balkonen, Sprossenfenstern, Spitzgiebeln, alle unterschiedlich und doch gleich. Kahle Bäume säumten die Straße, Hundehaufen auf den Baumscheiben. Vor einem Späti hatten sich biertrinkende Männer versammelt. In einer schmalen, parkähnlichen Promenade standen große Gruppen junger Leute und tranken Glühwein.
„Wo haben die denn den Wein her?“, fragte Ruth konsterniert.
„Ach, die Kneipen haben zwar alle zu, aber sie verkaufen ihr Zeugs zu den Fenstern raus.“
Ruth verspürte einen leisen Stich des Neides. Sie hätte auch gern in so einem coolen Viertel gewohnt. Bei ihr draußen war tote Hose, erst recht an einem Sonntag.
Weiter vor ihnen schien die Straße an einem grünen Wall zu enden.
„Was ist denn das Grüne da?“, fragte Ruth.
„Na, das Feld“, antwortete Annemie.
„So nah am Feld wohnst du?“
„Ja“, antwortete Annemie stolz. „Wir haben hier zwei tolle Parks direkt vor der Haustür. Da vorne das Feld, und da drüben“, sie zeigte nach rechts, „die Hasenheide.“
Sie überquerten eine weitere rumpelige Kopfsteinstraße und standen vor einem Zaun.
Eine Tür stand offen. Sie gingen hindurch.
Auf der anderen Seite, parallel zum Zaun verlief ein asphaltierter Weg. Viele Leute waren da unterwegs, hauptsächlich junge Familien und Radfahrer. Vom eigentlichen Feld sah man nichts, spätes, immer noch grün belaubtes Strauchwerk versperrte die Sicht. Doch man hörte die Weite, man roch sie. Und dann endlich öffnete sich die Reihe der Sträucher für eine Treppe, und vor ihnen lag es, das Feld. Riesig und weit und schier endlos in seinem Rund lag es unter dem Herbsthimmel mit seinen schnell ziehenden Wolken und seinen flatternden Drachen und seiner blendenden, schrägen Sonne, die sich bereits anschickte, hinter Kreuzberg zu versinken.
„Viel Zeit im Hellen haben wir nicht mehr“, bemerkte Annemie. „Aber die Tiere sind ja groß, die findet man auch in der Dämmerung.“ Sie zog ihr Handy hervor, strich darauf herum, bis sie den Artikel aus dem Tagesspiegel gefunden hatte. „Tiere auf dem Tempelhofer Feld“. Alte, vom Aussterben bedrohte Rinderrassen, hieß es da, seien auf dem Tempelhofer Feld einquartiert worden, um da den Winter zu verbringen. Bis zum kommenden April sollten die Tiere dort bleiben. Ein Foto zeigte ein Urvieh. Sehr groß, mit gebogenem, spitzigem Gehörn und zotteligem Fell.
„Ja, ja!“, rief Ruth aufgeregt, „so sehen die aus. Wo sind sie, wo?“ Sie spähte in die riesige Runde. Massenhaft Menschen aller Altersgruppen, Skater, Radfahrer, winzige Laufrädchenfahrer, Tänzer, Musiker, Drachenlenker und Hunde und nochmals Hunde, aber kein Rind. Annemie zog das Foto groß, beide Frauen beugten sich darüber, um im Hintergrund irgendwelche Anhaltspunkte ausmachen zu können, doch das klappte nicht, alles war zu schwammig, zu körnig, nichts war nützlich.
„Wir gehen ganz rum“, beschloss Annemie. „Dann werden wir sie schon finden.“
Aber sie fanden sie nicht. Sie gingen und gingen. Wie groß das Tempelhofer Feld wirklich ist, erschließt sich erst beim Gehen. Die Sonne versank hinter den Kreuzberger Dächern, da waren sie noch nicht mal am Flughafengebäude, da hatten sie noch nicht mal die Hälfte geschafft. Und doch war es schön. Sie sprachen viel. Erzählten sich von früher, es gab viel zu erzählen, sie kannten sich noch nicht lange. Ruth hatte früher in Südeuropa gelebt, auf einer Pferderanch. Viele Tiere hatte sie gehalten, auch große Hunde. Die hatten irgendwann gemerkt, wie leicht es für sie war, Schafe zu erbeuten. Da waren sie nicht mehr zu halten gewesen, nie mehr. Witterten sie irgendwo ein Schaf, brachen sie aus, brachten es zur Strecke und fraßen es. Das war schlimm. Hunde, die Schafe reißen, sind auf dem Land nicht sehr beliebt. Einmal, so erzählte Ruth, sei ein Jäger zu ihr gekommen und habe ihr angeboten, die Hunde zu erschießen. Ganz kurz, so sagte Ruth, sei sie in Versuchung gewesen, ihm den Auftrag zu erteilen, aber dann habe sie ihn zum Teufel geschickt und es lieber auf sich genommen, eine Mauer um ihr Grundstück errichten zu lassen und so die Hunde einzusperren. Blöd für die großen, freiheitsliebenden Kerle, aber lebensrettend. Auch für die Schafe.
Annemie war keine Hundefrau, sie hatte immer Katzen gehabt, damals in Süddeutschland, als sie noch ein eigenes Haus bewohnte. Alle ihre Katzen waren Freigänger gewesen, die letzte hieß Elionora, kurz Elli. Die war nicht bloß eine Katze, die war eine Persönlichkeit gewesen. Eine Freundin. Alt war sie geworden, fast zwanzig Jahre alt. Doch dann hatte ein Tumor sie von innen aufgefressen, und Annemie hatte sie zur Tierärztin bringen müssen. Was für ein schwerer Gang.
Später hatten Annemie und die Kinder Ellie im Garten begraben. Die Nachbarn waren gekommen und hatten Blumen gebracht.
So erzählten sie sich von ihren Tieren, und immer wieder hielten sie inne, und spähten ins weite Rund. Es war fast dunkel. Manchmal glaubten sie, etwas zu erkennen, etwas Tierartiges, doch es war immer nur ein niedriger Hügel, eine kleine Baumgruppe. „Das gibt’s doch nicht“, sagte Annemie. „Die müssen doch irgendwo sein!“
„Ich glaub nicht mehr dran“, sagte Ruth.
Und weiter marschierten sie. Sie hatten keine Wahl. War man erst einmal halb rum, musste man auch ganz herum.
Annemie wurde merkwürdig still. „Geht’s noch?“, fragte Ruth.
„Ich muss aufs Klo“, brach es aus Annemie hervor.
Ach du Schande, dachte Ruth, der viele Kaffee, aber das sagte sie nicht.
„Du hast doch was von Toiletten erzählt“, sagte sie stattdessen.
„Hm.“ Annemie nickte. „Aber die einzige, von der ich weiß, dass sie offen ist, ist oben am Neuköllner Eingang.“
Und weiter gingen sie.
Die Lichter von Neukölln rückten langsam näher, sehr langsam. Da entdeckte Annemie ein Häuschen, ein erleuchtetes Häuschen, drüben am Tempelhofer Rand.
„Ob das ein Klo ist?“, fragte sie zaghaft.
„Natürlich!“, jubelte Ruth. „Los, da gehen wir jetzt hin!“
Aber Annemie zögerte. „Es ist so weit bis da hinüber. Es könnte auch irgendwas Anderes sein. Ein Werkzeugschuppen für die Park Ranger vielleicht. Dann haben wir den Weg ganz umsonst gemacht. Besser schnellstmöglich heim. Das schaff ich noch.“
Doch wie magnetisch angezogen starrte sie hinüber. Ein Mann stand vor dem Häuschen. Er stand genauso da wie ein Mann, der auf seine Freundin wartet, die mal kurz in einem Klohäuschen verschwunden ist.
„Na gut“, seufzte Annemie. „Riskieren wir es.“
Sie verließen den Hauptweg, schlugen den Pfad zum Häuschen ein. Und wirklich, es war ein Toilettenhäuschen, und es war offen, und es stank nicht einmal.
Ruth wartete draußen und besah sich die Neuköllner Mietshäuser, in denen jetzt nach und nach die Lichter angingen. Hübsch, dachte sie. Aber hinter all diesen Fenstern regiert das Elend. Familiäre Gewalt, Missbrauch an Frauen und Kindern.
Als Annemie zurückkam, wollte sie ihre Gedanken mit ihr teilen, doch Annemie schnaubte nur. „Mann, Ruth“, sagte sie. „Du machst es dir aber auch.“
Ruth war gekränkt. Typisch, dachte sie, kaum geht’s ihr besser, schon wird sie schnippisch.
Sie drehte sich brüsk um, wandte ihrer Freundin den Rücken zu. Doch der Anblick, der sich ihr bot, ließ sie allen Groll vergessen. „Sieh dir das an“, sagte sie.
Da lag das dunkle, riesige Feld unter einem Himmel von tiefem Violett, und ringsum, ganz weit entfernt, doch ganz rundum, glitzerten die Lichter der Stadt. Was für ein Anblick, und das vor einem Klohäuschen. Lange standen sie da, die Ruth und die Annemie, und schauten. Erst als ihnen die Kälte bissig in die Wintermäntel kroch, machten sie sich auf den Rückweg.
Das Viertel hatte sich verändert, die Bier- und Glühweintrinker waren verschwunden, die Straße lag einsam und still. Retro-Lampen im Stil der alten Gaslaternen gaben spärliches Licht. Das Kopfsteinpflaster glänzte. Ein riesiger Mond hing direkt über der Straße, die schwarzen Äste der Bäume kratzten an seiner Scheibe.
„Verrückt“, sagte Ruth.
Annemie begleitete Ruth noch bis zur U-Bahn. Mit hinunter kam sie nicht, sie hatte keine Maske eingesteckt.
Die Bahn war schon da, Ruth hörte die Ansage auf der halben Treppe und rannte los. Sie schaffte es gerade noch in den ersten Waggon hinter der Lok, da schlossen sich die Türen. Dankbar ließ sie sich auf einen Klappsitz fallen. Es war der einzige freie Sitz, auf allen anderen saßen Tiere, große Tiere, Rinder vermutlich, mit gebogenem, spitzigem Gehörn und zottigem Fell. Sie saßen da, wie Menschen sitzen, auf ihren Hinterteilen, Rücken gerade oder leicht gekrümmt, Vorderbeine auf die Oberschenkel der Hinterbeine gestützt. Alle trugen sie brav ihre Masken, geblümt waren die meisten, und sie bewegten sich im steten Takt, weil die Tiere wiederkäuten.
Kein Wunder, dass wir sie auf dem Feld nicht gefunden haben, dachte Ruth. Die sitzen alle hier in der Bahn.
Es roch gut im Waggon, es roch nach Stall, nach Tier, nach Erde. Wundersam auch, dass diese großen Tiere so bequem Platz gefunden hatten, in Sitzen, die ganz gewiss nicht für sie entworfen worden waren. Doch Probleme schienen sie nicht zu haben.
Es gab übrigens nicht nur Rinder. Weiter hinten, zum Ende des Waggons, saßen auch andere Tiere, zierlichere, Antilopen vielleicht, schwer zu erkennen mit den Masken vor den Gesichtern. Und ganz am Ende, auf der Dreierbank, saß ein Nashorn. Auch dieses riesige Tier schien es ganz bequem zu finden auf seinen drei Sitzen. Die brauchte es allerdings, alle drei. Es trug eine beigefarbene Maske mit kleinen blauen Karos, die vermutlich aus einem Bettbezug gefertigt war. Sie verdeckte das Maul, das Horn aber stieg bogenförmig auf, die Spitze zeigte zur Wagendecke. Aus den kleinen, seitlichen Augen schweiften Blicke. Misstrauisch? Nein, überlegte Ruth, eher wachsam. Ja, wachsam, aber auch ein bisschen gelangweilt, wie man eben so sitzt in der U-Bahn.
Sie fühlte ein Kichern in sich aufsteigen, weil ihr ein Film in den Sinn kam, ein sehr alter Film, den sie vor Jahrzehnten geschaut hatte. Er spielte in Afrika, in der Kalahari. Ein Grüppchen weißer Europäer war aus Gründen, die Ruth vergessen hatte, unterwegs in diesem für Europäer so unwirtlichen Gebiet. Sie hatten einen afrikanischen Führer. Dieser erzählte seinen Schutzbefohlenen, dass Nashörner in der Kalahari eine besondere Aufgabe erfüllten: sie waren Feuerwächter. Wann immer sie ein Feuer witterten, rannten sie darauf zu und trampelten es aus. Die Weißen lachten über diese hübsche Geschichte, aber sie glaubten nicht daran. Doch dann, eines Abends, als sie ihr Etappenziel erreicht hatten, gemütlich um ein bescheidenes Lagerfeuer saßen und sich unterhielten, unterbrach ihr Führer das Gespräch mit einer plötzlichen, Stille verlangenden Gebärde. „Hört ihr das auch?“, fragte er.
Sie hörten es. Etwas donnerte heran. Etwas Großes. Und es war sehr schnell.
„Weg hier!“, schrie der Führer. „Weg vom Feuer!“ Er sprang auf, die anderen taten es ihm gleich, rannten davon, in die Dunkelheit außerhalb des Feuerkreises. Und schon war das Rhinozeros da, galoppierte im Höllentempo herbei, sprang in die Flammen trampelte darin herum, ließ nicht eher ab, bis auch die winzigste Glut, der kleinste Funke erloschen war. Dann schwenkte es sein riesiges Haupt in die Richtung, in der es die Touristen vermutete, als wollte es sagen: „Nicht nochmal, Leute, nicht nochmal!“ Es schnaubte verächtlich und stapfte davon.
Das war ein schöner Film gewesen, dachte Ruth, sie würde ihn gerne wieder anschauen. Das mit dem Nashorn und dem Lagerfeuer war nur eine Episode am Rand. Eigentlich ging es um die anmutigen, zierlichen Bewohner der Kalahari, die von den europäischen Kolonisatoren verächtlich „Buschmänner“ genannt wurden und deren wirklicher Name ganz anders lautete. Ruth wusste ihn nicht mehr. Aber sie würde ihn herausfinden.
Sie lehnte sich zurück, es war so angenehm in der Bahn. Dieser weiche, feuchte Geruch, diese Wärme. Sie gestattete es sich, ein wenig zu dösen.
„Gut, dass ein Nashorn im Zug sitzt“, dachte sie. „Da fühlt man sich doch gleich viel sicherer.“
Oh Annette, danke, was für eine schöne Geschichte! Niemals wäre ich auf den Gedanken gekommen, jemand könnte über uns schreiben. Ruth hat es verstanden, wir fahren jeden Tag um die Berliner:innen zu bewachen. Aber meist fahren wir mit der S-Bahn, immer um die Stadt herum. Du wirst es nicht glauben: die meisten nehmen uns gar nicht wahr.
Ich rede jetzt mal klug: wir suchen, was wir eigentlich in uns haben. Aber so gestelzt ist diese natürlich wahre Geschichte nicht, sie schraubt sich vom Trivialen durch schöne Bilder ins Magische. Und sie nimmt mit. Ich möchte immer von neuem in diese Geschichte einsteigen, um zu diesen Tieren zu kommen. Und das Nashorn, das Nahorn! hat uns noch lange in unseren Geschichten begleitet. Danke