wie immer die gleiche Landschaft,
wie eine Allee im tiefen Winter,
wie ein verwelkter Blumenstrauß,
wie eine verwaiste Baustelle,
wie zerknülltes Papier im Korb,
wie ein brachliegendes Feld,
wie ein langweiliges Buch,
wie eine Messiwohnung,
wie ein trockener Kanten Brot,
wie ein Glas Wasser anstatt Bier,
wie ein leeres Blatt Papier,
wie ein Rahmen ohne Bild,
wie eine abgebrannte Kerze
so fühle ich mich ohne dich
*
„Gedichte schreibt man nicht mit Wie“: Diskussion über ein „simples“ Gedicht
Kleine Dokumentation
I Die Mails (15. bis 17.08.2020)
Am 15. August verschickt die Autorin das Gedicht:
Ich sende euch mein Gedicht, aber wie schon gesagt, es ist ziemlich simpel.
Am 16. August mittags schreibt Michael Kreutzer zurück: So traurig das Gedicht auch sei, er habe es sehr gern gelesen. Seine Traurigkeit oder Deprimiertheit teile sich ihm beim Lesen mit.
Du schreibst, es sei „simpel“, und ich denke, klar ist es ganz, ganz einfach, aber diese Einfachheit ist wohl gerade seine Stärke. Da ist keine „Künstelei“ darinnen, Du willst nix erhöhen oder „verkunsten“, Du willst nix zeigen oder beweisen – außer eben der Traurigkeit, die diese ganze Kette von Bildern hervorruft und eine Traurigkeit über die Abwesenheit von jemandem/r ist.
Dabei passiere ihm als Leser noch Folgendes – wobei er nicht wisse, ob dies von der Autorin beabsichtigt sei: Gerade weil es so viele traurige Bilder seien, und eines sei trauriger als das andere, stelle sich in seinem Hinterkopf ein „leichtes, tröstliches Schmunzeln“ ein:
Mich erinnert das an einen meiner Lieblingsfilme, Night On Earth von Jim Jarmusch. In der letzten Episode fahren ein par fürchterlich traurige Finnen im Taxi durch die Stadt, einer trauriger als der andere, und am Ende erzählt der letzte seine eigne Geschichte, und die ist so furchtbar und über alle Maßen traurig, dass er damit alle anderen – und wohl auch sich selbst – tröstet.
Er glaube, es gebe so eine Grenze, an der das ganz Traurige, Ausweglose, Verlassene ins Absurde übergehe, so dass es einem ein unwillkürliches Lächeln entlocke:
… und ich denke, diese Grenze kennst Du genau, und die Kraft und die Pointen vieler Deiner „schwarzen“ Erzählungen beruhen gerade darauf.
Am 16.08.2020 abends schreibt Annette John, Sabine Wildes Gedicht habe sie sehr berührt:
Getroffen, wäre eigentlich das passendere Wort. Die Klage über den Verlust eines Gefährten, einer Gefährtin. Die Bilder, die du findest für Einsamkeit, Verlorenheit, Sehnsucht, die treffen einen wie ein Faustschlag, gerade weil sie so einfach sind, gerade weil es keine (stilistisch gesehen) Bilder, sondern Vergleiche sind. Dieses sich immer wiederholende „wie“… Gerade zum Trotz! Gerade so WIE es dir ums Herz ist.
Und dann lässt Annette John die Sätze folgen, um die die weitere Debatte gehen wird:
Ja ja, Gedichte schreibt man nicht mit wie. Das hat uns Ferdinand* schon gepredigt. [* Anmerkung: früheres Mitglied der Literaturwerkstatt, Name geändert]
Vergesst es! Gedichte schreibt man so, WIE man will. WIE man muss.
In seiner Antwort auf Annette John vom 17. August freut sich Michael Kreutzer zunächst, dass sie und er in ganz ähnlichem Sinn auf Sabines Gedicht geantwortet hätten. Dabei finde er Annette Johns Freisprechung des „Wie“ sehr „bedenkenswert“:
Ich meine, Ferdinand* hat ja nicht ganz unrecht. Das Gedicht verschmäht zumeist das Wie: z.B. weil es selber als Ganzes das „Wie“ ist (Metapher, Gleichnis…) oder aber weil es die Unterscheidung von Bild und „real“ Bezeichnetem außer Kraft setzt und sich frei in beiden miteinander verschränkten Zonen bewegt (…). Oder weil es symbol(ist)isch ist, und das Symbol ist schon gar nicht „wie“.
Sabine Wilde bleibe mit ihrem Gedicht sozusagen ganz prosaisch diesseits des Gedichts und nehme ihm damit vielleicht seine Tröstlichkeit (was keinesfalls ein Mangel sein muss!). Er habe ausprobiert, wie das Gedicht aussieht ohne „Wie“ (und ohne Kommata) und finde den Unterschied der Wirkung frappierend, aber schwer zu fassen.
Am 17. August schreibt Anne Lorquet, dass auch sie das Gedicht möge.
Es sind starke Bilder von Melancholie, totaler Langeweile und Abwesenheit von Leben.
II Die Werkstatt (18.08.2020)
Die Frage nach dem „Wie“ lässt die Diskussion auf der Werkstatt am 18. August von Hölzchen zu Stöckchen springen. Man sitzt bei Gebäck und Wasser vor der Kiezstube am Mehringplatz. Arthur Rimbaud kommt vorbei, kurz darauf auch Paul Verlaine, noch die Schmauchspuren vom Schuss auf seinen Freund auf der Hand, die Sisters Brontё tuscheln in ihrer Geheimsprache. Kinder wollen wissen, ob sie in der Kiezstube spielen dürfen. Leider noch nicht.
Franz Hödl will wissen, ob Sabines Gedicht auf einer „wirklichen eignen Erfahrung“ beruhe und muss sich – natürlich! – die Gegenfrage gefallen lassen, warum das denn wichtig sei. Es interessiere ihn schon, sagt der Kollege, aus welchen Quellen sich ein Text speise. Die Gegenfrage kommt nicht von der Autorin, die vielmehr die Frage einfach und offen beantwortet: Sie habe sich eben vorgestellt, wie es ihr so ginge, käme es zum Bruch mit einer Freundin. Und klar: wie das sei, das kenne sie auch.
Aber wie ist das nun mit dem magischen WIE, das ja vielleicht gerade die Magie des Gedichts zerstört?
Auf dem Tisch liegen zwei Fassungen des Gedichts, die originale und die ohne WIE, die Michael Kreutzer angefertigt hat.
Anne Lorquet findet die Fassung „mit WIE“ besser. Bernd Schellenberg schätzt die Klarheit, die das WIE schafft: Es seien eben zum Vergleich herbeigezogene Bilder, dann könne und solle man das auch sagen.
Wie Anne Lorquet sieht sich auch Annette John vom Klang dieses eintönig hämmernden WIE getroffen, und sie fügt hinzu: Durch diese trostlos wiederholte WIE gerate überdies eine Art Blinzeln oder Zwinkern in Sabines Text, eine Prise Ironie und Selbstdistanz, und das mache etwas Hoffnung. In der zweiten Fassung gebe es diesen Hoffnungsschimmer nicht. Stattdessen gebe es eine Pointe. Denn am Anfang kenne man nicht das innere Band, das die traurigen Motive verbindet. Es werde erst in den letzten zwei Versen enthüllt, und es sei schwarz.
Wie nun? Mit WIE oder ohne WIE (aber jedenfalls, soviel ist ja klar, ohne DICH…)? Was sagt die Autorin?
Oh, sagt sie, so ohne WIE klingt das Gedicht viel weniger simpel. Es gefällt ihr so.
Aber darf eine Autorin ein Gedicht, das von andrer Hand so ganz, in allen Zeilen und im Schluss, geändert wurde, noch als das ihre bezeichnen?
Am liebsten, sagt die Autorin, sähe sie beide Fassungen nebeneinander.
Und hier sind sie:
Ohne dich
wie immer die gleiche Landschaft,
wie eine Allee im tiefen Winter,
wie ein verwelkter Blumenstrauß,
wie eine verwaiste Baustelle,
wie zerknülltes Papier im Korb,
wie ein brachliegendes Feld,
wie ein langweiliges Buch,
wie eine Messiwohnung,
wie ein trockener Kanten Brot,
wie ein Glas Wasser anstatt Bier,
wie ein leeres Blatt Papier,
wie ein Rahmen ohne Bild,
wie eine abgebrannte Kerze
so fühle ich mich ohne dich
Ohne dich
immer die gleiche Landschaft
eine Allee im tiefen Winter
ein verwelkter Blumenstrauß
eine verwaiste Baustelle
ein zerknülltes Papier im Korb
ein brachliegendes Feld
ein langweiliges Buch
eine Messiwohnung
ein trockener Kanten Brot
ein Glas Wasser anstatt Bier
ein leeres Blatt Papier
ein Rahmen ohne Bild
eine abgebrannte Kerze
das bin ich
ohne dich